Ich habe mich oft gefragt, wie es sich anfühlt, wenn sich ein Mensch nicht dem Geschlecht zugehörig fühlt, das ihm aufgrund der körperlichen Merkmale bei Geburt zugewiesen wurde. Woran merkt man das? Selbst bin ich mit einigen Merkmalen ausgestattet, die traditionell wohl eher Männern zugeschrieben sind: Ich bin zum Beispiel überdurchschnittlich gross, stehe in meinem Chor in der Tenor-Ecke, fahre gern schnell Auto und bin sehr leistungsorientiert. Doch habe ich mich nie gefragt, ob ich im richtigen Körper stecke, auch wenn der Chorleiter jeweils mit «und jetzt die Männerstimmen!» ebendiese zum Singen auffordert, und ich mich jeweils als einzige Frau zusammen mit zehn Männern vom Stuhl erhebe.
Elvira Dones: Hana
Eingebettet in eine albanische Tradition erzählt Elvira Dones eine starke Geschichte über Geschlechteridentität.
Wie schlüpft man zurück in den eigenen Körper? «Hana» erzählt auf feinfühlige Art vom Sich-Wiederfinden.

Der «reformiert.»-Adventskalender: 24 beste Bücher – eine persönliche Auswahl
Es ist zwar nur ein Haufen Papier, etwas Karton und Farbe – aber ein Buch kann es wahrlich in sich haben. Die Welten, die sich darin eröffnen, bewegen uns und unser Leben.
«reformiert.» präsentiert als Adventskalender 2022 jeden Tag bis zu Weihnachten ein persönliches Lieblingsbuch. Mitglieder der Redaktion und der Geschäftsstelle schreiben, warum sie gerade dieses ausgewählt haben, und verraten etwas zum Inhalt.
Als ich letzten Sommer «Hana» der schweizerisch-albanischen Schriftstellerin Elvira Dones las, bekam ich auf eindrückliche, feine Art eine Ahnung davon. Dones' erster Roman handelt von einer jungen Frau, die nach albanischem Gewohnheitsrecht ihrer Weiblichkeit und der Sexualität entsagt und zur sogenannten «Schwurjungfrau» wird. Allerdings nicht, weil sie das Gefühl hat, im falschen Körper zu stecken, sondern weil Hana, die in einem Bergdorf in Nordalbanien aufwächst, dadurch die Rechte eines Manns erhält. Hana wird zu Mark.
14 Jahre nachdem ihr Onkel, den sie gepflegt hat, gestorben ist, wandert Hana zu ihrer Cousine Lila in die USA aus. Sie will wieder eine Frau sein, doch ist dieser Schritt für sie nicht einfach, denn ihr eigener Körper ist ihr abhandengekommen. Sie fühlt sich noch lange Zeit männlich.
Die Geschichte handelt nicht nur vom Wechsel zwischen Geschlechteridentitäten, sondern auch davon wie anders ein Leben verlaufen könnte, würde es in einem anderen kulturellen Kontext stattfinden – wie stark eben auch Kultur das Empfinden als Frau oder Mann prägt und nicht nur biologische Eigenschaften. Dones schreibt nie wertend, sondern ruhig und distanziert. Das lässt Raum für die eigenen Gedankenspiele und macht das Lesen umso faszinierender.
Elvira Dones: Hana. 2016, 4. Auflage 2020, INK PRESS