Eigentlich wollte ich dieses Buch nicht lesen. Zu traurig, zu beklemmend las sich die Zusammenfassung. Die Welt ist doch zurzeit schon zynisch genug, da muss ich nicht noch einen Roman lesen über einen desillusionierten Archäologen, der sich weder für seine Ehe noch für das Engagement seiner Arbeitskollegin gegen den versteckten Rassismus im amerikanischen Hochschulwesen interessiert und dann auch noch die kleine Tochter an eine genetische Krankheit verliert.
Percival Everett: Erschütterung
Der amerikanische Schriftsteller Percival Everett experimentiert mit literarischen Verfahren und schreibt trotzdem eine berührende Geschichte über das Verschwinden und die Liebe.
Traurig, klug und schön: Der grossartige Roman von Percival Everett. (Foto: FMR)
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Der «reformiert.»-Adventskalender: 24 beste Bücher – eine persönliche Auswahl
Es ist zwar nur ein Haufen Papier, etwas Karton und Farbe – aber ein Buch kann es wahrlich in sich haben. Die Welten, die sich darin eröffnen, bewegen uns und unser Leben.
«reformiert.» präsentiert als Adventskalender 2022 jeden Tag bis zu Weihnachten ein persönliches Lieblingsbuch. Mitglieder der Redaktion und der Geschäftsstelle schreiben, warum sie gerade dieses ausgewählt haben, und verraten etwas zum Inhalt.
Doch dann blätterte ich mich doch durch die Seiten und stand mit dem Buch in der Hand an der Kasse meiner Heimat-Buchhandlung im Zürcher Volkshaus. Zach Wells heisst der Ich-Erzähler, der ein bisschen wie ein zynischer Hiob wirkt, der das Klagen aufgegeben und sich in seiner akademischen Mittelmässigkeit eingerichtet hat.
Als die Krankheit der Tochter ausbricht, eine heimtückische, frühe Demenz, wird er aus seinem Zynismus hinauskatapultiert. Immer wieder scheinen religiöse Fragen und Motive auf, ohne dass sie benannt werden müssten. Zugleich empfängt Wells Hilferufe aus der mexikanischen Wüste in Form von Zetteln, die in die Hemden eingewoben sind, die er im Internet bestellt.
Das Spiel mit dem Ende
Meisterhaft experimentiert Percival Everett mit den literarischen Verfahren und erzählt dennoch eine zarte, berührende und in aller Traurigkeit liebevolle Geschichte. Die Erzählung führt vor, wie in der existenziellen Krise die Liebe aufkeimen kann und sich Möglichkeiten eröffnen, wo alles Leben zu erlöschen scheint.
Das Buch hat mich begeistert, weil es zeigt, was Literatur vermag. Everett nutzt sie als Kunstform, legt Spuren der Archäologie, des Schachspiels, der amerikanischen Migrationspolitik an der Grenze zu Mexiko und der grossen Fragen nach Fügung und Zufall. Der Roman hat drei verschiedene Enden, je nach dem, welchen Teil der Auflage die Leserin erwischt. Everett erzählt so anschaulich, so klug und berührend, dass ich mich immer wieder in dieses Kino im Kopf zurückversetzen kann.
Percival Everett: Erschütterung. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser 2022.