Wie jedes Jahr, wenn Bigna dem Christkind ihre Wünsche schreibt und malt, tauchte dabei die Frage auf: «Wie sieht es eigentlich aus?» «Ich weiss nicht, ich kann mir keine Gesichter merken.» Bigna lachte mich aus. «Ein Schriftsteller, der sich keine Gesichter merken kann!» «Moment, ein Schriftsteller muss sich auch keine merken. Er muss sich gar nichts merken. Die Bilder eines guten Textes entstehen in den Leerstellen, nicht in den Beschreibungen.»
Bigna warf die Stirn in Falten. «Ich verstehe Bahnhof.» «Nun, es reicht zum Beispiel, dass ich schreibe: Das Christkind war blond und roch nach frisch gebackenen Plätzchen. Schon sieht es jeder und jede sehr lebendig vor sich. Einmal mit Locken, einmal ohne, einmal im Tutu, einmal in Jeans, aber genau so soll es auch sein. Jede und jeder erschafft sich ein eigenes Christkind.» Bigna schüttelte den Kopf. «Blond ist schon mal kreuzfalsch. Das Christkind ist dunkelbraun wie ich. Und es riecht nach Stall. Stall riecht viel mehr nach Weihnachten als Kekse.» «Meinetwegen. Und wonach riecht Stall?» «Du fragst wieder Sachen», rief sie so, als wäre sie die Erwachsene und ich das Kind. «Nach Heu natürlich, und nach Kuh.» «Und wie riecht Kuh?» «Nach Milch und Mist und warmem Fell.»
Sie begann mit vorgeschobener Zunge wieder zu malen, ich sah ihr zu. «Gesehen hast du es also schon», stellte sie nebenbei fest. «Vermutlich. Wir wurden einander nicht vorgestellt.» Ich weiss nicht, ob sie mich hörte. Sehr konzentriert malte sie eine Kuh und ein Christkind mit dunklen Locken im Heu. «Was wünschst du dir eigentlich dieses Jahr?», fragte ich irgendwann. «Da», sagte sie und zeigte auf den Heuberg, den sie immer höher malte.
«Heu?» «Das ist doch kein Heu, das sind Gewehre.» Natürlich, jetzt sah ich’s auch. Dem Christkind zeichnete sie etwas wie einen Granatenwerfer in die Arme. «Alle müssen ihr Gewehr abgeben. Wer nicht spurt, wird erschossen», erklärte sie, «es kommt aber nur Engelshaar heraus. Die Leute werden darin gefesselt. Schliesslich ist Weihnachten. Zu Weihnachten vergiessen wir kein Blut.»