Kultur 19. September 2024, von Felix Reich

Im Lied glimmt der Funke der Hoffnung

Musik

Auf dem brüchigen Boden persönlicher Verlusterfahrung singt sich Nick Cave an das Heilige heran. Das Album «Wild God» steht in der Tradition der Psalmen zwischen Trauer und Trost. 

Manchmal reicht eine Ahnung vom Glück. Im Eröffnungssong des neuen Albums «Wild God» des australischen Sängers Nick Cave schweben Engelschöre durch den Raum, allerdings schwingt in der Euphorie die Manie, der Absturz mit. Der Erzähler fällt freilich nicht ins Bodenlose. Da ist etwas, das ihn hält, eine geheimnisvolle Hoffnung. 

Mit Unterhaltung allein gibt sich Cave längst nicht mehr zufrieden. Er will «die Welt verbessern» mit der Musik, sagt er und gebärdet sich als singender Prediger und Seelsorger, der aus seiner eigenen Verlusterfahrung heraus in der Gemeinschaft Trost sucht und spendet.

 Im so beklemmenden wie berührenden Album «Skeleton Tree» (2016) verarbeitete Cave den Tod seines 15 Jahre jungen Sohnes, der im LSD-Trip von einer Klippe stürzte. Dem Tod trotzte Cave wunderbare Lieder ab und sang in «Jesus Alone» die programmatische Zeile: «You believe in God but you get no special dispensation for this belief». Auch dem Gläubigen bleibt nichts erspart. Vor zwei Jahren verlor Cave auch den zweiten Sohn, der an Schizophrenie litt und mit 31 Jahren wohl an einer Überdosis starb. 

Durchlässig für das Leben

Der Glaube imprägniert nicht gegen Schmerz und Verzweiflung, vielmehr macht er durchlässig für das Leben und ahnt etwas von der Liebe, die darüber hinausgeht. Musik sei jene Kunstform, die «dem Heiligen» am nächsten komme, sagt Nick Cave. Sie schaffe «wahrhaftige Momente der Transparenz».   

Auf «Wild God» wirkt Cave wie ein Priester der Poesie, der sich in der Tradition der Psalmen im Dunkeln dem Licht entgegensingt, das sich am Ende des letzten Songs «As the Waters Cover the Sea» im unverhofften Gospelchor Bahn bricht. 

Das Ende der Maskerade

Reizte Cave in seiner Karriere zuweilen die Irritation, sucht er heute die Gemeinschaft mit dem Publikum. Vorbei sind die Zeiten, als er sich als ein Meister der Maskerade zeigte. Immer im Anzug, der ihm auch eine Arbeitsuniform ist, spann Cave die Erzählfäden der Mythen weiter, setzte sich in Stadien ans Klavier und sang die Kitschgrenze umspielende Seemannsballaden, er sprengte mit Punkgitarren Sitzplatzkonzerte und enterte mit Mörderballaden die Hitparade.   

In jeder Rolle steckte etwas von ihm, jeder biografische Splitter diente ihm zur Maske. Doch spätestens seit er sich im Blog «The Red Hand Files» auf den intimen Dialog mit dem Publikum einliess, ist die Lust an der Provokation erloschen.

Gläubig aus Erfahrung

Beim Schreiben gehe es nicht um Wahrheit, «sondern um Re­alität, um Bedeutung», sagt Cave. Deshalb sei die Frage nach der Existenz Gottes, die ihm wiederholt begegnet, nicht richtig gestellt. Ihn interessiere, «was es bedeutet zu glauben». 

Sein Leben, sein Werk sind geprägt vom Gottesbegriff. «Ich bin ein Gläubiger.» In der Erfahrung der Präsenz Gottes genauso wie im Gefühl der Gottesverlassenheit.

Prekäre Einsamkeit

Seine Konzerte feiert Cave als zuweilen fiebrige Gottesdienste. Er selbst bezeichnet gelungene Auftritte als Reise, von der Musiker und Publikum «verändert zurückkehren». Die Verwandlung, die eben gerade nicht hergestellt werden kann, sondern die sich als geschenkter Moment einstellt, sucht und findet er auch in den zehn neuen Songs, die er mit seiner Band The Bad Seeds, die ihn seit vielen Jahren begleitet, eingespielt hat. 

Prekäre Einsamkeit verwandelt sich in die Ahnung eines kollektiven Erfahrungshorizonts. Trauer wird zum Ausdruck der Liebe, im Zweifel glimmt der Funke der Hoffnung.

Im weiten Delta

Mit dem famosen Multiinstrumentalisten Warren Ellis hat Cave für «Wild God» keine gradlinigen Songs komponiert. Die Arrangements mäandrieren durch ein weites Delta, türmen sich bedrohlich auf, um in stiller Geborgenheit zu verhallen. 

Indem die Lieder von den Wunden, die das Leben schlägt, zeugen und sie auch im Luftsprung des Glücks nicht ausklammern, wirken sie heilsam. Zuletzt feiern und beweinen sie die Vergänglichkeit und wollen helfen, mit diesem Leben irgendwie klarzukommen.

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