Die Genesung Donald Trumps von seiner Covid-19-Erkrankung wird von seinen Anhängern gefeiert wie eine göttliche Auferstehung. Wie kommt es, dass ein Politiker fast wie ein Heiliger verehrt wird?
Brigitte Kahl: In den USA sind Staat und Kirche zwar getrennt, aber die Politik, die Religion und das Geschäftsleben sind seit jeher eng miteinander verknüpft. Auf allen Dollarnoten findet sich das nationale Glaubensbekenntnis «In God we trust», und seit 1954 ist es im «Pledge of Allegiance», dem nationalen Treueeid, verankert: Die Vereinigten Staaten sind «One Nation under God». Der Geschäftsmann Donald Trump spielt als Politiker auf dieser Klaviatur des ganz besonderen, unverwundbaren Amerikas, und er zeigt sich auch selbst in der Pose der Unverwundbarkeit und sozusagen göttlichen Macht.
Dass sich die US-Amerikanerinnen und -Amerikaner gewissermassen als auserwähltes Volk verstehen, ist nicht neu, oder?
Nein, dieser Glaube, diese Selbstüberschätzung ist tief in den Menschen verankert. Und ist in allen gesellschaftlichen und politischen Kreisen zu finden. Nur sehr wenige stellen dieses Erwählungsbewusstsein ernsthaft infrage, und wer es tut, gilt als eine Gefahr für das Land. Es kommt nicht von ungefähr, dass alle Reden in beiden politischen Lagern mit dem Satz «God bless America» enden, und das nicht erst seit Donald Trump.
80 Prozent der weissen Evangelikalen unterstützen Donald Trump. Was haben sie davon?
Sie bekommen Macht und politischen Einfluss. Seit etwa 50 Jahren haben sich die evangelikalen Gemeinschaften stark politisiert. Mittlerweile sind sie nicht mehr nur eine religiöse, sondern auch eine politische Bewegung. Sie positionieren sich gegen Lesben, Homosexuelle und Schwarze, gegen Abtreibung, den Feminismus, die Säkularisierung und den Islam. Trump ist für sie ein Anwalt ihrer Interessen, die er politisch tatsächlich erfolgreich durchsetzt, aktuell mit dem hastigen Versuch der Neubesetzung im obersten Gerichtshof – auch wenn er moralisch den christlichen Vorstellungen nicht entspricht.
In der Tat, die Vorwürfe wegen Sexismus, Rassismus, Steuerhinterziehung und offensichtlicher Lügen reissen nicht ab.
Ja, aber er verkörpert das, was die Evangelikalen im Kern ausmacht: Sie sind patriarchal und autoritär organisiert, eher auf der Seite von John Wayne als von Jesus mit seiner Nächsten- und Feindesliebe. Präsident Trump scheint diesem Männlichkeitsideal, das von den Liberalen infrage gestellt wird, zu entsprechen. Und er steht für die Erlösung von allem Bösen, deshalb halten sie auch am Pakt mit ihm fest. Er seinerseits ist auf ihre Stimmen angewiesen und zeigt sich deshalb im Gebet mit der millionenschweren Fernsehpredigerin Paula White.
Paula White ist seine spirituelle Beraterin, und sie spricht von einem spirituellen Krieg, einem Kampf zwischen Gut und Böse.
Für Leute wie sie ist Trump der von Gott eingesetzte König. Wer gegen Trump ist, stellt sich gegen Gott. Es ist eine Art Führerkult, eine Vergötzung der Macht, die in dieser Zeit der Polarisierung und gegenseitigen Schuldzuweisung einen idealen Nährboden bildet für Unruhen und Gewalt. Während Präsident Trump selbst Chaos schürt, beschimpft er seine Gegner als Chaoten, um dann als Drachentöter, als heiliger Georg sozusagen, die Monster mit Militäreinsatz im Strassenkampf zu besiegen. Paula White macht daraus einen Heiligen Krieg, eine Art christlichen Dschihad. Das Ziel ist, die Macht des Präsidenten und die ihrer Kirche zu festigen.
Teilen Sie die Befürchtung, dass es nach der Wahl zu einem Bürgerkrieg kommen könnte?
Die US-amerikanische Gesellschaft ist so stark ideologisch polarisiert, politisch frustriert und zugleich individuell schwerbewaffnet, dass man sagen muss: Die Zeichen stehen auf Sturm. Im rechten Lager gibt es eine Lust auf die gewaltsame Auseinandersetzung, die klarmachen wird, wer die Starken und wer die Schwachen sind. Private Waffenkäufe zeigen Rekordzahlen. Es gibt Engpässe an Munition. Darin sehe ich eine grosse Bedrohung.