Schon seine ersten Worte sind politisch: «Mein Herz ist gebrochen», sagt Reverend Michael Livingston ernst, blickt kurz nach unten auf seine Notizen und dann wieder direkt in die Kamera. «Und ich vermute, auch die Herzen von vielen von Ihnen, die jetzt online diesen Gottesdienst mitverfolgen, sind gebrochen.» Er spricht über die kurz zuvor verstorbene liberale Richterin Ruth Bader Ginsburg, bevor er noch engagierter wird.
«Ruhe in Frieden, Breonna Taylor. Ihr junges Leben wurde genommen, plötzlich und ohne Warnung, ungerecht.» Der Fall der jungen Schwarzen, die bei einer nächtlichen Razzia in ihrem Zuhause von mehreren Kugeln der Polizei getötet wurde, erschüttert ihn. Für diejenigen, die das zu verantworten hätten, werde es auf Erden kein Gericht geben, meint der Pastor.
Gottesdienst im Live-Stream
Deutliche Worte zu Beginn seines Gottesdienstes, den Livingston wegen der Corona-Pandemie immer noch vor den leeren Bankreihen in der berühmten Riverside Church im Nordwesten von Manhattan halten muss. In dem an die Gotik anlehnenden Kirchenbau hat seinerzeit schon Martin Luther King Jr. gegen den Vietnam-Krieg gepredigt. Und Nelson Mandela hat hier bei seiner ersten US-Reise nach dem Ende der Apartheid in Südafrika gesprochen.
Während an diesem Septembertag 2020 die Frühstücksgäste draussen in den Cafés dem Sommer einen der letzten schönen Tage abtrotzen – die Innenbewirtung ist in der einstigen Pandemie-Welthauptstadt immer noch verboten –, begrüsst der Prediger im Youtube-Stream seine Gemeinde: «Willkommen bei diesem Gottesdienst, der etwas zählt!»
Progressive Christen
Rund 350 Zuschauer sind live dabei, wenn ihr Reverend über die wirtschaftlichen und persönlichen Folgen der Corona-Pandemie spricht, oder über die kämpferischen Ziele der Bürgerrechtsbewegung «Black Lives Matter» und die Politik des umstrittenen US-Präsidenten Donald Trump.
«Wir erreichen mehr Menschen als vor der Pandemie», erklärt Livingston. An die tausend Leute sähen sich im Laufe der Woche den Sonntagsgottesdienst an, und die Qualität des virtuellen Kaffeetreffs sei auch gestiegen. «Früher waren es nur kleine Gruppen, in denen sich alle kannten. Jetzt kommen zahlreiche neue Gemeindemitglieder dazu», berichtet er. Natürlich liessen sich nicht sämtliche Angebote ins Virtuelle übertragen. «Deshalb bieten wir weiterhin Sozialarbeit an und verteilen Lebensmittel an Bedürftige.»