Mit dem Eis gehen auch Kulturen unter

Ökologie

Die industrielle Fischerei, der Hunger nach Rohstoffen und der Klimawandel bedrohen das Gleichgewicht in der Arktis und damit die Lebensgrundlagen der Menschen.

Die Arktis erwärmt sich doppelt so rasch wie der Rest der Welt. Das hat dramatische Folgen nicht nur vor Ort, sondern auf der ganzen Erde. Denn der Kältepol wirkt als globale Klimaanlage, die lange für stabile Wetterverhältnisse sorgte. Und während das Seeeis schmilzt, werden weitere umweltschädigende Begehrlichkeiten freigelegt. 

«Wir müssen die Welt grundlegend neu denken, eigentlich ist die Zeit bereits abgelaufen», warnt Iris Menn, Geschäftsleiterin von Greenpeace Schweiz und Meeresbiologin. Sie zählt die aktuellen Probleme in der Arktis auf: Die industrielle Fischerei, die mit ihren Grundschleppnetzen Lebenswelten abrasiert, erschliesst neue Fanggebiete. Und die Kreuzfahrtrouten dehnen sich auch in immer attraktivere Weiten aus. Zudem stehen zahlreiche Akteure in den Startlöchern, um endlich an die reichen Rohstoffvorräte in der Arktis heranzukommen. 

Die 29. Klimakonferenz in Baku im November hat laut Menn kaum wesentliche Fortschritte erzielt. «Es fehlen mutige Schritte zu einer echten Transformation, die nicht auch haltmacht vor einem Wirtschaftssystem, zu dem das Wachstum zwingend dazugehört», sagt sie. 

Wir müssen die Welt grundlegend neu denken, eigentlich ist die Zeit schon abgelaufen.»
Iris Menn, Greenpeace Schweiz

Schatzkammer der Vielfalt

Das schlimmste Szenario für die Meeresbiologin ist der angedachte Tiefseebergbau, nicht nur im arktischen Ozean, sondern auch im Pazifik. Die Technik werde mit schweren Geräten in mehreren Tausend Metern unter der Wasseroberfläche eingesetzt. Denn in der Tiefsee verbergen sich grosse Schätze: Manganknollen, die Mangan, Eisen, Nickel und Kobalt enthalten – Metalle, die in der Elektronikindustrie eingesetzt werden. Menn ist überzeugt: «Es ist ein Wahnsinn, was da geplant wird im letzten noch nahezu unberührten Lebensraum unserer Erde. Wir wissen über die Tiefsee weniger als über den Mond.» 

Für die in der Arktis lebenden Menschen ist der Klimawandel verheerend. Menn berichtet von Folgen für die indigene Bevölkerung. Ihr Leben sei auf die Natur ausgerichtet, die sich massiv verändere. «Weil der Permafrost auftaut, rutschen Küstensiedlungen weg.» Etwa vier Millionen Menschen wohnen in der Arktis. Ein Viertel von ihnen oder je nach Zählart viel weniger sind Indigene. Ihre Kulturen und Sprachen sind eng mit ihren Lebensformen verbunden. 

Da ist etwa die Rentierzucht. «Für die Sami zum Beispiel ist sie identitätsstiftend und gerät immer mehr unter Druck», sagt Tabea Willi, Programmleiterin mit Schwerpunkt Arktis der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV). Nebst dem Klimawandel bedrohen auch weitere Faktoren die traditionelle Rentierzucht. Der Platz wird enger, weil immer mehr Menschen sich im Norden ansiedeln. Und ein weiteres Problem sind Windparks, die eigentlich das Klima schonen sollten. 

Wie verfahren die Situation ist, zeigt sich am Beispiel von Norwegen. Dort wurde 2020 der damals grösste Windpark Europas in Betrieb genommen. Jahrelang wehrten sich die Sami dagegen, weil ihre Rentierherden so keinen Platz mehr finden. Das höchste Gericht Norwegens gab ihnen recht, aber erst, als der Park auf der Fosen-Halbinsel, an dem auch die Bernischen Kraftwerke beteiligt sind, schon den Betrieb aufgenommen hatte. Die Streitparteien haben sich inzwischen halbherzig auf gewisse Kompensationen geeinigt.

Sorgen macht sich Willi im Moment besonders um die indigenen Menschen in Russland. «Sie wurden länger schon diskriminiert.» Und seit dem Ukrainekrieg sei ihre Situation noch schwieriger. «Sie werden überproportional für den Krieg eingezogen», sagt die Expertin.

Die grosse Unbekannte

In die Interessenkonflikte in der Arktis sind viele Staaten involviert. Das Polarmeer hat fünf Anrainer: Kanada, Russland, Norwegen, die USA mit Alaska und Dänemark mit Grönland. Kulturell und politisch spielen auch Island, Schweden und Finnland eine wichtige Rolle. 

Darum sind sie ebenfalls Vollmitglieder im Arktischen Rat, dem wohl wichtigsten Gremium für die Zusammenarbeit, in dem auch sechs indigene Organisationen mitwirken. Seit dem Angriff auf die Ukraine ist Russland nur noch am Rand in den Rat miteinbezogen. Dass auch internationale Forschungsprojekte eingefroren wurden, ist ein riesiger Rückschlag für die polare Klimaforschung. Überhaupt werden alle Aktivitäten Russlands in der Arktis zunehmend zur einer Black Box. 

Industrielle Entwicklung

Yvon Csonka vertritt die Schweiz als beobachtendes Land im Arktischen Rat in einer Kommission für nachhaltige Entwicklung. Der emeritierte Neuenburger Ethnologieprofessor verfolgt die Situation der indigenen Bevölkerung am Polarkreis intensiv. 

40 indigene Völker werden allein in Russland offiziell gezählt, 19 davon auf Gebieten der Arktis. «Ihr Dachverband Raipon hat sich auf die Seite Putins gestellt», sagt Csonka. Verlässliche Informationen stammten im Moment nur von exilierten Indigenen. Für ihn ist klar: Russland will die Arktis industriell entwickeln, mit Öl- und Gasförderung, mit Minen – heute vor allem auf der sibirischen Halbinsel Jamal, wo viele Menschen vom Volk der Nenzen leben. 

Auch China will von den Bodenschätzen vermehrt profitieren. Der Ethnologe Csonka weiss: «Im November sind auf dem Seeweg zahlreiche Module zum Bau einer riesigen Fabrik für die Gasförderung angekommen.»

Kirchen an den Klimakonferenzen

Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK), dem weltweit 349 Kirchengemeinschaften angehören, hat sich schon früh für die Schöpfungsbewahrung und die Klimagerechtigkeit eingesetzt. An seiner letzten Vollversammlung, die nur alle acht Jahre stattfindet, hat er in Karlsruhe 2022 den Nöten und Forderungen von indigenen Menschen, die überproportional vom Klimawandel betroffen sind, eine Plattform geboten. Der ÖRK war auch an der 29. Klimakonferenz, die im November im aserbeidschanischen Baku stattfand, in begleitenden Foren vertreten. Im Vorfeld setzte er sich für mehr Klimagerechtigkeit zwischen Nord und Süd ein, wies auf die lebensbedrohlichen Folgen des Klimawandels für indigene Menschen hin und propagierte deren schöpfungszentrierte Spiritualität als Vorbild.