«Wir fühlen uns brüderlich mit der Schweiz verbunden»

Waldenser

Die Glaubensgemeinschaft der Waldenser ist in der italienischen Bevölkerung beliebt. Politologe Paolo Naso erklärt, warum. Ein Gespräch über Freiheit und Religion in Italien. 

Sie sind Waldenser. Was macht einen Waldenser aus? 

Paolo Naso: Als Erstes erzählen wir immer unsere 850-jährige Geschichte – das ist unser neurotischer Tick. Scherz beiseite. Drei Dinge zeichnen uns aus: die Verbundenheit mit der Geschichte, die Bibel und unser Kampf für Freiheit.

Wieso ist das 850-Jahr-Jubiläum der Waldenser wichtig? Und warum erzählen Waldenser so gern ihre Geschichte? 

Weil wir glauben, dass unsere kleine Glaubensgemeinschaft auch die europäische Geschichte mitgestaltet hat. Lange wurde uns die Freiheit verwehrt. Die Waldenser wurden als Ketzer verfolgt, dann von weltlichen Machthabern in die Bergen verbannt. Erst 1848 verlieh uns König Karl Albert von Sardinien Bürgerrechte. Und seit der Verfassung von 1948 gilt für alle das Prinzip der Religionsfreiheit.

Ist die Freiheit ein waldensisches Leitmotiv? 

Ja, und darin sehen wir bis heute unsere Relevanz für die Gesellschaft. Denn das reformatorische Gedankengut bezieht sich auf soziale Reformen und Pflichten. Aus diesem Grund engagieren sich Protestanten für soziale, freiheitliche und pluralistische Angelegenheiten. Bei uns sind alle willkommen. Wir engagieren uns für eine gerechtere Welt und eine humane Migrationspolitik, stehen ein gegen Queer-Feindlichkeit und kümmern uns um ethnische Minderheiten.

Paolo Naso, 67

Paolo Naso, 67

Er unterrichtet Politikwissenschaften an der Universität La Sapienza in Rom. Für den Bund der Evangelischen Kirchen in Italien leitete er das Programm «Mediterranean Hope – Refugee and Migrant Program». Derzeit koor­diniert er die Studienkommission für Dialog und Integration. Naso ist Herausgeber des vierten Bandes der «Neuen Geschichte der Waldenser» («Storia dei Valdesi»). 

Wie hat sich die Waldenserkirche in der Zeit des Faschismus und des Zweiten Weltkriegs verhalten? 

In diesen Zeiten konnte eine kleine Kirche wie die unsere eben nicht in aller Öffentlichkeit vertreten, was sie wollte. Sie musste sich anpassen. Sie hat unbewaffneten Widerstand in aller Stille geleistet. Anders als junge Waldenserpriester: Sie entwickelten theologischen Widerstand gegen den Faschismus und schlossen sich den Partisanen an. Sie haben verantwortungsbewusst auf die Situation reagiert. Die Folgen waren Festnahmen und Folter. Einige dieser Priester wurden gehängt, andere nach Deutschland deportiert, wo sie in Konzentrationslagern ums Leben kamen.

Die Waldenser bekommen jährlich mehrere Dutzend Millionen Euro aus einem öffentlichen Fonds anvertraut, obwohl sie einer konfessionellen Minderheit angehören. Wie kommt es dazu? 

In Italien wird die Kirchensteuer nicht automatisch nach Konfession eingezogen; die Leute wählen frei, welcher Kirche oder Institution sie acht Promille ihrer Gesamtsteuern anvertrauen wollen. 500 000 Menschen entscheiden sich jeweils für die Waldenserkirche.

Woher kommt die Sympathie für Ihre Glaubensgemeinschaft? 

Im Gegensatz zur katholischen Kirche legen wir offen, wohin die Gelder fliessen. Keinen einzigen Euro verwenden wir für unsere Pfarreien oder unsere Gehälter. Das Geld setzen wir für soziale Projekte ein: Altersheime und Waisenheime, weiter Betreuungsstätten für Kinder aus schwierigen Verhältnissen oder Unterkünfte für Migranten. Jeder ausgegebene Euro lässt sich öffentlich nachverfolgen. Nebst inländischen Projekten unterstützen wir zudem Organisationen im Ausland, etwa das Hilfswerk der Evangelischen Kirche Schweiz (Heks).

Wir zeigen, dass eine legale Migration möglich und erfolgreich ist.

Die Waldenser sorgten für Schlagzeilen mit dem Projekt der humanitären Korridore. Zusammen mit dem italienischen evangelischen Kirchenbund und der katholischen Organisation Sant’Egidio haben sie seit 2016 tausend syrische Kriegsflüchtlinge direkt aus dem Libanon nach Italien gebracht. 

In der Tat ist dieses Projekt ein Erfolg. Wir zeigen, dass eine legale Migration möglich und erfolgreich ist. Wir begleiten die Menschen aus dem Libanon direkt nach Italien und unterstützen sie dabei, sich hier ein neues Leben aufzubauen. Wir sind mit Deutschland, Frankreich und Holland in Kontakt, um aus dem italienischen ein europäisches Projekt zu machen.

Hat das Projekt die Stimmung  im Land verändert? 

Nein, die Leute schauen immer noch kritisch auf die Flüchtlinge. Zudem schürt die Politik Angst gegenüber den Ausländern. Das ist ein totaler Widerspruch, denn wir sind ja auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. Die europäische Abschreckungspolitik hilft uns jedenfalls nicht weiter.

Welche Beziehung haben die Menschen in Italien zur Religion? 

Im Land herrscht ein religiöser Analphabetismus. Die Resultate einer Umfrage waren dramatisch: Kaum jemand kann die vier Evangelisten benennen. Noch weniger der Teilnehmenden konnten die Frage beantworten, wer früher lebte: Moses oder Abraham. Und nicht einmal die Hälfte der Italienerinnen und Italiener weiss, ob wir Waldenser Christen sind oder nicht.

Seit 2015 koordinieren Sie den Rat für die Beziehungen zum Islam, der im Innenministerium Italiens eingerichtet wurde. 

Richtig. Man hat wohl gemerkt, dass wir Waldenser fürs Thema der religiösen Freiheit sensibilisiert sind. Italien ist religiös viel pluraler geworden. In den Schulklassen sitzen Muslime, Jüdinnen und Kinder aus Sikh-Gemeinschaften. Aber in den Gesetzen und im normativen Rahmen muss die religiöse Vielfalt erst noch ankommen. 

Wir fühlen eine brüderliche Verbundenheit zur Schweiz und sehen sie als unsere zweite Heimat an.

Sie sind in den 1960er-Jahren in einem Waldenserhaushalt aufgewachsen. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Kindheit? 

Ein evangelischer Junge wie ich war damals im streng katholischen Umfeld ein Aussenseiter. Als Kind musste ich in der Schule wegen meiner Konfession die Aula verlassen. Als junger Mann erlebte ich die Umbrüche in unserer Gesellschaft: Abrüstung, Friedensbewegung, den Kampf gegen die Mafia und gegen die organisierte Kriminalität, für Gleichstellung. Das waren spannende Jahre, die wir mitgeprägt haben. Theologisch formte mich mein familiäres Umfeld. Mein Vater war Pfarrer. Er lebte mir vor, was es heisst, Verantwortung für unsere Gesellschaft wahrzunehmen.

Ihr Vater hat in Basel studiert. Welche Rolle spielt die Schweiz für die Waldenser? 

Viele unserer Pfarrer haben in der Schweiz studiert. In Basel, Zürich und Genf gibt es Waldensergemeinschaften. Überhaupt ist die Schweiz wichtig für uns. Waldenser flüchteten dorthin, konnten ihren Glauben leben, und die Schweiz beschützte sie. Wir fühlen eine brüderliche Verbundenheit zur Schweiz und sehen sie als unsere zweite Heimat an.

350 Jahre nach dem vorreformatorischen Wirken von Petrus Valdes stiess der deutsche Mönch Martin Luther die historische Reformation an. Was verbindet die beiden? 

Das ist schwierig zu sagen. Petrus Valdes ist ein Mann des Mittelalters. Martin Luther als Mann der frühen Neuzeit hingegen sah schon den Horizont der Wissenschaft, der humanistischen Kultur. Beide stellten die Bibel in den Mittelpunkt, nach dem Grundsatz «sola scriptura», also «die Schrift allein». Beide setzten sich ein für das einfache Volk. Aber interessanter wäre meiner Ansicht nach der Vergleich von Valdes mit Franziskus von Assisi.

Unsere Berufung war immer die einer Minderheit, die das Evangelium bezeugen will, die sich für Gerechtigkeit, Religionsfreiheit und Recht einsetzt. Und diese Berufung bleibt immer noch der Leitstern.

Wieso? 

Sie haben einen gemeinsamen Ursprung: die Armutskirche. Doch ihre Wege trennten sich. Franziskus wurde in die katholische Kirche aufgenommen, Petrus Valdes hingegen aus ihr verstossen.

Manche Historiker bezeichnen die Waldenserbewegung als «Mutter der Reformation». Teilen Sie diese Einschätzung? 

Nein, ich teile sie nicht. Obwohl sich die Waldenser bereits früh für die Prinzipien einsetzten, dass die Bibel allen offensteht und die Gläubigen ohne priesterliche Vermittlung mit Gott in Kontakt treten können, war diese Kirche im Jahr 1200 noch nicht reformiert. Wir können nicht von einer Reformation sprechen, die damals historisch noch gar nicht stattgefunden hat.

Wie sehen Sie die Zukunft der Waldenser? 

Wir haben mit einem Mitgliederschwund zu kämpfen. Unsere Kirche wird immer kleiner – wie viele andere kirchliche Gemeinschaften im Westen auch. Das ist zwar besorgniserregend, aber es entmutigt mich nicht. Unsere Berufung war immer die einer Minderheit, die das Evangelium bezeugen will, die sich für Gerechtigkeit, Religionsfreiheit und Recht einsetzt. Und diese Berufung bleibt immer noch der Leitstern, an den uns das verkündigende Wirken von Valdes erinnert.