Schwerpunkt 29. Juli 2025, von Christian Kaiser

Das Heiligtum hinter dem grünen Tuch

Spiritualität

150 Jahre nach seiner Geburt ist C. G. Jung noch immer omnipräsent: in Sprache, Kunst, Seelsorge, Therapie. Das Nachlesen seiner Gedanken und sein Haus helfen, ihn zu verstehen.

Es ist wohl eines der schönsten Anwesen am Ufer der Goldküste. Den besten Blick erhascht man vom See her, vom Floss der Küsnachter Badi, die gleich nebenan liegt.
Die stattliche Villa liegt etwas zurückversetzt hinter einem Schilfgürtel am Ufer. Rechts schliesst an die Mauer zum Seebad ein hölzerner Pavillon an, Jungs «Cabinettli», daneben der Badeplatz für Kinder und Enkel. Hier durften sie planschen und plauschen, während der Hausherr pfeiferauchend auf der Terrasse am anderen Rand des Grundstücks bei seinem Bootshaus sass, wo er in der Regel von niemandem gestört werden wollte. 

In diesem «Gartenzimmer» empfing er bei gutem Wetter auch Patienten oder plauderte mit illustren Gästen: Herrmann Hesse, Thomas Mann, Albert Einstein oder dem Physiker Wolfgang Pauli. Es war eine besondere Ehre, wenn der berühmte Psychiater sie vom kleinen Hafen aus auf eine Fahrt mit seinem Segelboot, der Pelikan, mitnahm. 

 In eigener Sache : Spiritualität, Kunst und Literatur

Mit der Reportage aus dem Haus von Carl Gustav Jung verabschiedet sich Redaktor Christian Kaiser von den Leserinnen und Lesern von «reformiert.». In den letzten fünf Jahren verantwortete er die Kulturtipps und schrieb insbesondere über spirituelle Themen sowie Kunst und Literatur. Eine besondere Gabe waren seine Reportagen, in denen er individuelle Erfahrungen mit gewissenhafter Recherche verknüpfte und gerade dank seines persönlichen Blicks auf die Welt anschlussfähig blieb für die Sichtweisen anderer. fmr

Als gut 30-jähriger Psychiater am Burghölzli hat er sich die Idee in den Kopf gesetzt, am See leben zu müssen. Ohne Wasser, dachte er, «könne man überhaupt nicht sein». Den Traum zu realisieren, ermöglichte ihm seine Ehefrau Emma Rauschenbach mit ihrem Vermögen. Sie kaufen das Grundstück und lassen 1908 die Villa am See für sich erbauen. 

Alles dreht sich um Gott 

Jung ist ein Metaphysiker, der sich gegen die pure Wissenschaftsgläubigkeit wehrt. Ein rein rationalistisches Weltbild ist für ihn schlicht «ungültig, weil unvollständig»: Es sei wichtig, «dass wir ein Geheimnis haben und die Ahnung von etwas nicht Wissbarem. Es erfüllt das Leben mit etwas Unpersönlichem, einem Numinosum. Wer das nie erfahren hat, hat Wichtiges verpasst.» 

Bei Jung dreht sich ganz vieles, ja praktisch alles um Gott, das Numinose, Spirituelle. Denn er hielt eine gesunde Beziehung zum Überirdischen, Jenseitigen für einen Schlüssel für psychische Gesundheit: «Die entscheidende Frage für den Menschen ist: Bist du auf Unendliches bezogen oder nicht?», schrieb er in seinem Lebensrückblick. Nur wer wisse, dass «das Grenzenlose» das Wesentliche sei, sei davor gefeit, sich für Nichtigkeiten zu interessieren wie falschen Besitz, Schönheit, Begabung oder Geltungsbedürfnis. 

Die entscheidende Frage für den Menschen ist: Bist du auf Unendliches bezogen oder nicht?
Carl Gustav Jung, Psychiater

Wer C. G. Jung näherkommen will, nimmt am besten einen Augenschein in seinem Küsnachter Wohnhaus. Längst ist es ein Pilgerort für Jungianerinnen und Jungianer, die Führungen sind regelmässig ausgebucht. Das Besondere an diesem Ort: Salon, Speisezimmer, Wintergarten, Arbeitszimmer, Bibliothek, Therapiezimmer – die wichtigsten Räume sind heute noch genauso eingerichtet wie am 9. Juni 1961, als C. G. Jung in Küsnacht zu Grabe getragen wurde. 

Gott ist immer da 

Der Spruch auf seinem Grabstein hatte ihn das ganze Leben lang begleitet: «Vocatus atque non vocatus deus aderit», gerufen oder nicht gerufen, Gott wird da sein. Oder: Gott ist immer da, ob wir ihn rufen oder nicht. Diesen Satz liess er auch in den Sandsteinfries über der Schwelle zu seiner Haustür in Küsnacht einmeisseln. In einem Brief legte er dar, dass sein Lebensmotto auch seine Patientinnen und Patienten an die Gottesfurcht erinnern solle. Die Furcht vor Gott sei der Ursprung aller Weisheit, wie es im biblischen Buch der Sprichwörter heisst. 

Gegenüber dem Schweizer Radio erklärte der Psychiater 1960 seine Faszination für den Spruch so: «Ich habe eben die Erfahrung gemacht, dass diese sogenannten Erfahrungen überall vorhanden sind, ob beabsichtigt oder nicht.» Davon zeugten auch die Ausrufe des Erstaunens von Menschen, die vielleicht nicht einmal an Gott glaubten und dennoch bei bestimmten Phänomenen ausriefen: «Oh Gott», «mein Gott». Jung war überzeugt: Wenn das Ich aufgebe und nicht mehr die oberste Instanz des psychischen Geschehens sei und etwas anderes für einen eintrete, sei Gott am Werk. 

Abenteuer der Selbstfindung 

Im Wintergarten mit Blick auf den Garten und das nahe Seeufer steht auf hohem Sockel eine Büste von Homer, dem griechischen Dichter der Odyssee. Jung liess sich gern mit ihr ablichten. 

Da ist sie wieder, die metaphorische Seelenfahrt übers Wasser, wo allerlei Prüfungen auf einen warten und letztlich das Abenteuer der Selbstfindung winkt. Auch der Pelikan, nach dem er sein geliebtes Segelschiff benannt hat, findet sich an verschiedenen Plätzen im Haus, als Keramikfigur zuoberst auf dem opulenten blauen Kachelofen im Salon oder als Gemälde über der Tür, die zum Esszimmer führt: Der Wasservogel ist ein altes Symbol für Christus und ein alchemistisches Zeichen für Transformation.

Überraschendes Bekenntnis

Die BBC hatte Jung in einem Interview mit der Frage überrascht, ob er an Gott glaube. «Ich habe es nicht nötig, an Gott zu glauben, ich weiss es», lautete die Antwort. Er sei nachher über seinen Ausspruch erstaunt gewesen. Natürlich will er nicht objektiv Gottes Existenz propagieren, aber er weiss, dass es ihn gibt, weil er ihn subjektiv erfahren hat, innerpsychisch, seelisch erlebt. 

In seiner autorisierten Biografie beschreibt Jung seine Visionen während und nach einem Herzinfarkt 1944. Danach war nichts mehr, wie es zuvor gewesen war. «Die Erkenntnis oder die Anschauung vom Ende aller Dinge gaben mir den Mut zu neuen Formulierungen.» Was Jung da beschreibt, ist eine eigentliche Erleuchtung in mehreren Stufen. Eine mystische Erfahrung voller Glückszustände und Schönheit. 

Der Grossteil meiner Patienten bestand aus Menschen, die ihren Glauben verloren hatten. Zu mir kamen die verlorenen Schafe.
Carl Gustav Jung, Psychiater

Er befindet sich in einem paradiesischen Granatapfelgarten, feiert mystische Hochzeit, spricht von einer Präsenz des Heiligen, schreibt von Seligkeitszuständen mit Engeln und Licht – ein Erleben von etwas Ewigem, in dem Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zusammenfallen. Das eigentliche Geschenk dieser Visionen war für ihn aber eine völlige Bejahung des eigenen Schicksals: «ein Ja-Sagen zum Sein – ein unbedingtes Ja zu dem, was ist, ohne subjektive Einwände». 

Der bibelfeste Jung war sozusagen doppelt vorbelastet: Sein Vater Johann Paul Achilles war ein reformierter Pfarrer im thurgauischen Kesswil, sein Grossvater mütterlicherseits hatte das höchste Pfarramt in Basel inne. Hingegen war sein aus Deutschland in die Schweiz eingewanderter Grossvater Carl Gustav Jung Arzt. Ausserdem war sein Namensgeber ein passionierter Grossmeister der Freimaurerei. Jung hatte also auch das Esoterische bereits in seinen Genen.

Jungs grösstes Interesse gilt der psychischen Gesundheit. «Ich fühle mich weder berufen, eine Religion zu stiften, noch, eine solche zu bekennen. Ich betreibe keine Philosophie, sondern denke bloss im Rahmen der mir auferlegten speziellen Aufgabe, ein rechter Seelenarzt zu sein.» Als Psychiater sei sein wichtigstes Anliegen, wie er seinen «Kranken dabei helfen könne, wieder eine gesunde Basis zu finden». 

Die verlorenen Schafe 

Jung diagnostiziert, dass bei neurotischen Menschen meistens die lebendige Anteilnahme an der kirchlichen Symbolwelt fehle. «Der Grossteil meiner Patienten bestand aus Menschen, die ihren Glauben verloren hatten. Zu mir kamen die verlorenen Schafe.» Jung sieht es als erwiesen an, dass religiöse Rituale den Menschen den Zugang zum Unbewussten eröffnen und so auch für psychische Gesundheit sorgen. 

Und Jung tut etwas Unerhörtes, was vor ihm kein anderer Psychologe oder Psychoanalytiker getan hat. Er setzt das Unbewusste mit Gott gleich: «Gott» und «Dämon» seien mythische Ausdrücke für das Unbewusste. Die Sprache des Unbewussten ist für Jung die Sprache Gottes. Durch Träume, Visionen, Vorwissen, Vorerkenntnisse und Synchronizitäten – gleichzeitige Geschehnisse, die überraschen, weil ihr Eintreten jeglichen Wahrscheinlichkeiten widerspricht – redet der Schöpfergott aus dem Unbewussten heraus.

In Jungs Bibliothek herrscht eine erstaunliche Vielfalt. Alchemistische, okkulte, gnostische und apokryphe Schriftsammlungen stehen neben Bibelkommentaren. Auf dem Arbeitstisch liegt ein Band «Die Liturgie der heiligen Osternacht».

Das ist der Sinn des Gottesdienstes, das heisst des Dienstes, den der Mensch Gott leisten kann, dass Licht aus der Finsternis entstehe und dass der Schöpfer Seiner Schöpfung und der Mensch seiner selbst bewusst werde.
Carl Gustav Jung, Psychiater

Das Therapiezimmer gleicht einer Kapelle. Vor dem Fenster hängt ein Triptychon. Die Originale sind in der Klosterkirche im aargauischen Königsfelden zu finden, Jung liess sie für den Therapieraum kopieren. 

Was auf diesen Kirchenfenstern in der Grundfarbe Blau zu sehen ist, passt kaum in einen psychologischen Therapieraum: links die Geisselung, in der Mitte die Kreuzigung und rechts die Abnahme des Leichnams Christi. Die kompetente Führerin erläutert den englischsprachigen Besuchenden, es sei anzunehmen, dass Jung die Patienten auf die Fenster hingewiesen habe. Im therapeutischen Prozess gehe es schliesslich darum, sein Kreuz zu erkennen und zu ertragen, eine solche Passion mache den Weg frei für eine Transformation, den inneren Tod und dann auch für die Auferstehung.

Das Zimmer birgt weitere Überraschungen: Im Gegensatz zu Freud behandelte Jung seine Patientinnen und Patienten nicht auf der Couch, sondern begegnete ihnen auf Augenhöhe im Stuhl. Hinter seinem Gegenüber hatte Jung jeweils ein grünes Tuch an der Wand im Blickfeld, hinter dem sich eine Art höchstes Heiligtum verbarg. 

Die Führerin spricht vom «Energiezentrum» des Raums. Als sie den Vorhang zieht, ist das Staunen der Besucherinnen gross: ein Abbild des Turiner Grabtuchs! Das lässt sich nicht anders deuten, als dass die Menschwerdung Gottes eine irdische Tatsache ist. Der menschgewordene Gott hat vorgezeigt: Ein Neugeborenwerden ist möglich!

Aus Finsternis wird Licht 

Christus ist für Jung das Symbol eines erlösten Menschen. Er hat den innermenschlichen Gegensatz aufgelöst. Geisselung, Kreuzigung, Auferstehung sind die drei Phasen des innerpsychischen Erlösungsprozesses. Das Leid, das Erkennen des Kreuzes, das es zu tragen gilt, ermöglichen eine Neuwerdung. 

In Jungs Worten: «Das ist der Sinn des Gottesdienstes, das heisst des Dienstes, den der Mensch Gott leisten kann, dass Licht aus der Finsternis entstehe und dass der Schöpfer Seiner Schöpfung und der Mensch seiner selbst bewusst werde.» 

Es gilt also, sich seinen dunklen Seiten zu stellen, den Schatten, dem Bösen. Gott hat für Jung beide Ausprägungen: Gibt es einen Schöpfergott, so muss er auch das Böse in der Welt geschaffen haben. 

Gott ist gut und böse zugleich. Jung spricht von abgestürzten Engeln, Satan, Poltergeistern, dem Dämonischen. Die Hauptaufgabe des Menschen auf dem Weg der Individuation besteht darin, diese in ihm angelegte grundsätzliche Gegensätzlichkeit zu überwinden. Dann winkt die mystische Hochzeit, der innere Friede, die Neuwerdung. 

Auf der Suche nach dem himmlischen Menschen

Der zweite Spruch auf dem Grabstein Jungs steht im Korintherbrief: «Primus homo de terra terrenus, secundus homo de caelo caelestis.» Der erste Mensch ist aus Erde, ein irdischer, der zweite Mensch ist vom Himmel, himmlisch.

Jung war überzeugt, dass die irdische Aufgabe des Menschen darin besteht, den zweiten Menschen, der vom Himmel kommt, freizulegen. Das ist das eigentliche Vermächtnis des berühmten Wassermenschen aus Küsnacht.