Spät aus seinem Schatten getreten

Nachlass

Carl Gustav Jungs Werk und dessen Breitenwirkung wären ohne die Unterstützung und den Einfluss der Frauen in seinem Umfeld undenkbar. Ihre Bedeutung wurde lange zu wenig anerkannt.

Im Psychologischen Club in Zürich-Hottingen mit seiner gut sortierten Bibliothek und dem umfangreichen Archiv hängt gleich beim Eingang ein grosses Ölgemälde in dunklen Farben. Nur die Haut der porträtierten Frau leuchtet hell, ihr Gesichtsausdruck ist ernst, die grossen Augen lassen Seelentiefe erahnen.

Die Frau ist Antonia Wolff, genannt Toni, und war von 1928 bis 1945 Präsidentin des Psychologischen Clubs. Carl Gustav Jung hatte die Vereinigung 1916 zusammen mit seiner Frau Emma und Interessierten der Analytischen Psychologie gegründet. Emma Jung war die erste Präsidentin. Und das zu einer Zeit, als Frauen in leitenden Positionen eine Seltenheit waren.

Erheirateter Wohlstand 

Wer sich mit Jung befasst, stösst auf auffallend viele Frauen, die sowohl für seine Biografie wie auch für sein Werk bedeutungsvoll waren. Angezogen von Jungs viel zitiertem Charisma und der Faszination für seine Seelenerforschung, waren sie weit mehr als nur Begleiterinnen. Sie wurden zu Mitdenkerinnen, Mitarbeiterinnen und eigenständigen Forscherinnen, blieben jedoch im Hintergrund. «Sie alle haben auf ihre Art etwas zu seinem Werk beigetragen», sagt Andreas Schweizer, ehemaliger Präsident des Psychologischen Clubs. «Ohne sie wäre Jung nicht Jung.» 

Die wichtigste Frau in Jungs Leben war Emma. Schon bei ihrem ersten Treffen soll der damals 21-Jährige in der 14-Jährigen seine künftige Ehefrau erkannt haben. Nach dem Abschluss seines Medizinstudiums sieben Jahre später heiratete der mittellose Pfarrerssohn die wohlhabende Fabrikantentochter. 

Das Paar hatte gemeinsam fünf Kinder. Mit Emmas Vermögen lebten sie finanziell komfortabel und konnten 1908 in Küsnacht am Zürichsee ein grosses Haus bauen. Hier führte der Psychiater seine Privatpraxis, ab 1930, als die Kinder gross waren, arbeitete auch Emma mit. 

Die Bildung nachgeholt 

Wie damals viele Töchter aus gutem Haus durfte Emma nicht studieren, sondern wurde auf ihre Aufgaben als Ehefrau und Mutter vorbereitet. Sie bildete sich jedoch weiter, wuchs über traditionelle Rollenerwartungen hinaus. Später betreute sie als Analytikerin neben ihren eigenen Patienten auch die ihres Mannes, wenn er auf Reisen war. 

Im Januar 2025 ist über Emma Jung in englischer Sprache ein umfangreiches Buch erschienen, mit herausgegeben von ihrem Urenkel Thomas Fischer. Dank bisher unveröffentlichtem Material belegt «Dedicated to the Soul» («Der Seele verpflichtet») erstmals, wie sich Emma Jung auf vielfältige Art mit dem Mysterium der Seele auseinandergesetzt hat: als Poetin, Malerin, Traumdeuterin und Vortragsrednerin.

Wolff verkörperte für Jung viele Aspekte des weiblichen Unbewussten, das er später als Anima beschrieb.

In Fachkreisen wird das Buch als jener Meilenstein angesehen, der Emma Jung aus dem Schatten ihres berühmten Mannes treten lässt und ihre Rolle angemessen würdigt.

Eine neue Perspektive auf die Bedeutung der Frauen in der frühen Geschichte der Analytischen Psychologie bietet auch das ebenfalls englischsprachige Buch «Toni Wolff, C. G. Jung: A Collaboration». Bereits vor acht Jahren erschienen, widmet es sich der zweiten prägenden Frau an Jungs Seite. 

Inspiration und Austausch 

Akribisch recherchiert und mit umfangreichen Fussnoten versehen, zeichnet das Buch von Nan Savage Healy ein differenziertes Porträt von Toni Wolff, die Jung durch ihre Intelligenz, ihre Feinfühligkeit und emotionale Tiefe inspirierte. Wolff verkörperte für Jung viele Aspekte des weiblichen Unbewussten, das er später als Anima beschrieb. Ihr Beitrag zur Psychologie wird zum Teil bis heute unterschätzt. 

Wolff, aus einer wohlhabenden Zürcher Familie stammend, lernte Jung 1910 als Patientin kennen. Die 22-Jährige entwickelte ein grosses Interesse an der Psychologie, schon bald wurde sie Jungs Mitarbeiterin, enge Vertraute und schliesslich seine Geliebte. Sie begleitete ihn durch die Zeit nach seinem Bruch mit Sigmund Freud 1912, für Jung eine herausfordernde und turbulente Phase, während der er sich intensiv mit seinem Unbewussten befasste. 

«Toni Wolff war auf eine Art medial begabt, dass sie Jungs Abgründe, Visionen und Träume so gut verstehen konnte wie wohl niemand anderes», sagt Schweizer. In dieser Zeit sei das Fundament gelegt worden für die psychologischen Theorien, für die Jung bekannt ist. 

Die Geschichten dieser Frauen verdeutlichen, dass weibliche Perspektiven einen prägenden Einfluss auf die Ausgestaltung von Jungs Psychologie hatten.

Laut vielen Quellen war das Dreiecksverhältnis zwischen Wolff, Emma und Carl Jung in den ersten Jahren komplex und auch schmerzhaft, wurde von allen Beteiligten jedoch schliesslich akzeptiert. Kurz vor ihrem Tod 1955 sagte Emma Jung: «Ich werde Toni immer dankbar sein, dass sie für meinen Mann getan hat, was weder ich noch jemand sonst zu einer höchst kritischen Zeit hätte für ihn tun können.» 

Wolff scheint schwer getragen zu haben an der Dreierkonstellation. Obwohl sie eine gut besuchte psychoanalytische Praxis führte und am C. G. Jung Institut in Zürich Dozentin war, habe sie in späteren Jahren verbitterte Züge angenommen, sagt Schweizer. Die Tatsache, dass Jung nach ihrem Tod mit 65 Jahren eigenhändig einen Gedenkstein meisselte – wie später für Emma –, zeigt, welche Bedeutung Toni und Emma für ihn hatten. 

Die Deutung der Träume 

Eine wichtige Rolle spielte später die 40 Jahre jüngere Marie-Louise von Franz. Sie wurde seine engste wissenschaftliche Mitarbeiterin. Durch ihre Fähigkeit, komplexe Inhalte verständlich zu vermitteln, trug sie wesentlich zur Bekanntmachung und Vertiefung seiner Theorie bei. Nach Jungs Tod 1961 wurde von Franz zur wichtigsten Stimme seiner Schule und publizierte unter ihrem eigenen Namen, beispielsweise zur psychologischen Interpretation von Träumen und Märchen oder den Visionen des Niklaus von Flüe. 

Weitere nahe Vertraute waren die Analytikerin Barbara Hannah und  Aniela Jaffé. Als Jungs Biografinnen und Autorinnen prägten sie, neben vielen weiteren, in späteren Jahren seine Rezeption. 

Die Geschichten dieser Frauen verdeutlichen, dass weibliche Perspektiven einen prägenden Einfluss auf die Ausgestaltung von Jungs Psychologie hatten, obwohl ihr Wirken in der von Männern dominierten Disziplin über lange Zeit im Hintergrund blieb. Und ebenso zeigen sie, wie tiefe menschliche Beziehungen das Denken beeinflussen und formen können.