Ein Taucher in den Tiefen der Seele

Lebenswerk

Vor 150 Jahren geboren, schuf der Carl Gustav Jung eine Psychologie, in der die inneren Bilder der Seele zentral sind. Das Werk des Psychiaters trübt aber seine Nähe zu den Nazis.

In seinem Lebenswerk findet sich nahezu alles, was irgendwie mit dem Übersinnlichen und Geheimnisvollen zu tun hat: Mystik, Yoga, Alchemie, die Mythen und Spiritualität afrikanischer sowie nordamerikani-scher Völker, Märchen, Theosophie, Esoterik und Spukhaftes. Sogar mit dem Ufo-Phänomen setzte er sich auseinander. Nun jährt sich der Ge-burtstag von Carl Gustav Jung, dem Pionier auf dem Gebiet der Tiefenpsychologie, zum 150. Mal.

Die von ihm entwickelte Psychologie ist vielfältig und bunt, spricht das Gemüt und die Seele ebenso an wie den Intellekt. Und viele seiner Gedanken wirken weit über die psychologische Wissenschaft hinaus in Kunst, Kultur, Theologie und Alltag weiter. Sprechen wir etwa von Archetypen, von Komplexen oder von Menschen, die entweder intro- oder extrovertiert sind, dann verwenden wir Begriffe aus dem Lehrgebäude von Jung. Seine Ideen flossen ab den späten 1970er-Jahren auch in die New-Age-Bewegung ein. 

In der therapeutischen Praxis spielen Freud und Jung nach wie vor eine Rolle, Jung dazu in der Religionspsychologie.

Als Vater der Psychoanalyse gilt der Wiener Seelendoktor Sigmund Freud (1856–1939). Der um knapp 20 Jahre jüngere, in Kesswil TG als Pfarrerssohn geborene Carl Gustav Jung studierte in Basel Medizin, spe-zialisierte sich auf Psychiatrie und empfing von Sigmund Freud vielfältige Impulse. Beide setzten bei der Behandlung von seelischen Erkrankungen darauf, die bewussten und unbewussten Anteile des Menschen zusammenzuführen und miteinander auszusöhnen. Mittel der Wahl war die Traumdeutung. 

Geheimnisvolle Muster 

Freud sah die Ursache seelischen Leidens im unterdrückten Sexualtrieb. Jung dagegen unterteilte die Tiefenschichten der menschlichen Psyche in persönliche und kollektive Anteile. Letztere nannte er das kollektive Unbewusste. Dieses äussert sich in den Archetypen, in ererbten psychischen Grundmustern also, die auf den Menschen einwirken. 

Divergierende Auffassungen in der Lehre beendeten die eher kurze, aber vertraute Zusammenarbeit zwischen Freud und Jung. Letztlich passten die beiden schlecht zusammen: Freud, der atheistische Materialist und Rationalist, und Jung, der Mystiker, dessen Psychologie des Irrationalen auch einiges an Zivilisationskritik enthält. 

Religion als fester Bestandteil des Menschseins

In der universitären Psychologie kommen Freud und Jung heute kaum mehr vor – nicht zuletzt, weil sich viele ihrer Annahmen nicht verifizieren lassen. In der therapeutischen Praxis spielen aber beide nach wie vor eine Rolle, Jung dazu in der Religionspsychologie. 

Jung habe Religion als festen Bestandteil des Menschseins definiert, schreibt der Berner Seelsorgeprofessor Christoph Morgenthaler als einer der Autoren im Buch «Klassiker der Religionswissenschaft».

Religiosität habe für Jung aber nicht in erster Linie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensgemeinschaft bedeutet, sondern das Ergriffensein durch das Numinose, das geheimnisvolle Göttliche. Ausführlich setzte er sich zudem mit der christlichen Tradition auseinander.

Schuld auf sich geladen

Ein dunkles Kapitel sind C. G. Jungs Verflechtungen mit dem Nationalsozialismus und sein Verhältnis zum Judentum. In seinem Aufsatz «Wotan» aus dem Jahr 1936 beschreibt er den Wandergott der Germanen als archetypische Verkörperung der unzähmbaren germanischen Seele. Diese rauschhafte Gestalt äussere sich auch im Handeln der Nationalsozialisten in Deutschland.

Mit seinen undistanzierten Ausführungen habe Jung die Nazi-Bewegung «zum Ausbruch ehrfurchtgebietender Brausegötter» verklärt: So kritisiert der Politologe Richard Gebhardt in seiner Schrift «Jung und der deutsche Faschismus». Darüber hinaus habe er in der Zeit des Dritten Reichs als Vorsitzender der psychiatrischen Berufsorganisation gegen die Theorien der Psychoanalyse des Juden Sigmund Freud agitiert.

Gerade die Innenwelt hat heute kaum mehr eine Lobby, die Aussenwelt verlangt zu viel Aufmerksamkeit. Jung ist ein Lobbyist der Seele.
Verena Kast, Professorin für Psychologie und Jungianerin

Definitiv Schuld auf sich geladen habe Jung mit der Unterscheidung zwischen einem «jüdischen» und einem «arischen» Unbewussten. In den Juden sah er ein altes Kulturvolk, das gerade wegen seines Alters vieles an schöpferischer Kraft verloren habe. Im «arischen» Unbewussten hingegen würden noch wilde und schaffende Triebe walten.  

Jung ein Antisemit? Manche urteilen nachsichtig, sie sprechen von Naivität und Opportunismus. Andere sagen, das sei verharmlosend. Der Berner Journalist und Historiker Urs Hafner etwa schrieb unlängst im Magazin des «Tages-Anzeigers» von einer «tiefen Verbindung zwischen den neuen Herrenmenschen und dem neuen Grossmeister der Tiefenpsychologie». 

Ein Lobbyist der Seele 

Was bleibt? Die emeritierte Professorin Verena Kast ist eine der prominentesten Jungianerinnen. «Bei der jungschen Psychologie geht es um innere Bilder, die unsere Gefühle ausdrücken, sie aber auch verändern», erklärt sie. Der Weg zu diesen Bildern führe über die Konzentration auf die Innenwelt. «Gerade die Innenwelt hat heute kaum mehr eine Lobby, die Aussenwelt verlangt zu viel Aufmerksamkeit. Jung ist ein Lobbyist der Seele.» 

Und überdies ein Anwalt der Kreativität: «Jung hat nicht nur von ihr gesprochen, er hat sie gelebt», sagt Kast. Die Kreativität als veränderndes Prinzip: «Nichts muss bleiben, wie es ist.»