Wie ein Kapitän auf der Brücke

Justiz

Marcel Ruf ist der siebte Direktor in der 158-jährigen Geschichte der JVA Lenzburg. Unter ihm wurden innovative Projekte eingeführt, welche die Resozialisierung stärken. 

Lenzburg die fünfte Theatersaison seit 2012 zu Ende. Gefangene spielten vor insgesamt 1400 Zuschauern ein Stück von Dürrenmatt im Boxring, Sie machten jeweils die Begrüssung. Mit welchen Erinnerungen blicken Sie auf das Projekt zurück? 
Marcel Ruf: Für mich ist das inzwischen Courant normal, aber einer, der mir grossen Spass macht, sonst würde ich das aufwendige Projekt nicht jedes Mal unterstützen. Die meisten Zuschauer sind inzwischen Stammkunden und zeigen in den Diskussionen danach grosses Interesse an den Schauspielern. Und auch von den Mitarbeitenden sind immer mehr dabei, obwohl viele der Männer sich lieber Fussball anschauen als Theaterproduktionen.   

Die JVA Lenzburg war das erste Gefängnis in der Schweiz, das Theaterproduktionen einführte. Wie kam es dazu? 
Theaterarbeit ist ein Stück Resozialisierung, und diese gehört im Strafvollzug zu den wichtigsten Aufgaben eines Gefängnisses. Während der  Proben arbeiteten die Gefangenen eng mit Menschen von ausserhalb zusammen, in diesem Fall mit jungen Theaterleuten. So üben sie, im Team zu arbeiten und einander zu respektieren. Sie erleben Erfolg und sie entwickeln Selbstbewusstsein. Das ist ein wichtiger Teil ihrer Vorbereitung auf das Leben nach dem Gefängnis, und das wollte ich fördern. Bis 1967 war Theater in der JVA Lenzburg selbstverständlich. Die Gefangenen spielten mit dem lokalen Theaterverein, sogar Kinder machten damals mit, was wir heute in dieser Form nicht mehr machen würden. 

Die Resozialisierung ist durch die neuen Risikobeurteilungen in den Hintergrund getreten.

Der Ruf nach Sicherheit ist seit dem «Mord am Zollikerberg» immer lauter geworden. 1993 tötete ein wegen Vergewaltigungen und Mord verurteilter Mann im Hafturlaub eine junge Frau, eine Volksinitiative resultierte in der Einführung der unbefristeten Haft, der Verwahrung. Hatte das Auswirkungen auf den Resozialisierungsauftrag? 
Die Resozialisierung ist durch die neuen Risikobeurteilungen in den Hintergrund getreten. Selbstverständlich gehören Arbeit und Ausbildung aber immer noch zu unseren Hauptstützen. Allerdings wird zum Beispiel die bedingte Entlassung, die gemäss Strafgesetzbuch die Regel sein sollte, immer mehr zur Ausnahme. Ich verstehe einerseits die Sorge. Entlässt man jemanden und er begeht erneut eine schlimme Tat, sind alle schockiert. Das Dilemma allerdings bleibt: Wo zieht man die Grenze, damit einerseits nicht zu viele Gefangene unnötig eingesperrt bleiben und andererseits das Rückfallrisiko nicht zu gross wird?   

Obwohl die Regeln strenger geworden sind, taucht regelmässig der Vorwurf der «Kuscheljustiz» auf. 
Ich stelle immer wieder fest: Die einen finden unsere Gefängnisse unmenschlich, tiefes Mittelalter. Andere beurteilen sie als zu gut, à la «Kein Wunder, werden manche immer wieder kriminell, wenn es sich im Gefängnis so gut leben lässt». Auf unseren Führungen durch die JVA erleben wir, dass sich beide Meinungen relativieren. Erstere fin-den unser Gefängnis gar nicht so unmenschlich und sind erleichtert. Letztere finden die Zellen von 7,8 Quadratmetern mit Toilette drin dann doch nicht so kuschelig. Und schon gar nicht die Vorstellung, dass die Gefangenen ausserhalb ihrer Arbeitszeit und der zwei Stunden Freizeit am Abend ständig darin eingesperrt sind.   

Was ist in Ihren Augen für einen Menschen das Schlimmste am Eingesperrtsein? 
Der fehlende Kontakt zur Aussenwelt. Wenn ein Mensch in Untersuchungshaft kommt, wird ihm von einem Moment auf den anderen die Freiheit entzogen. Er sitzt in der Zelle, seine Angehörigen wissen nicht, wo er ist. Das Mobiltelefon wird ihm abgenommen und der Zugang zu allen sozialen Beziehungen gekappt. Für Betroffene ist die Untersuchungshaft schlimm. Einschneidend ist auch jener Moment, in dem ein Urteil gefällt wird und der Täter erfährt, dass er noch viel länger in Haft sein wird, als sein Anwalt vermutete. Zudem sind Feiertage, vor allem die Weihnachtstage, für viele besonders schwer.  

In welchen Momenten haben Sie Kontakt zu den Gefangenen? Mein Büro liegt mitten im Zellengebäude des Fünfsterns. Gehe ich Kaffee holen, begegne ich je nach Tageszeit vielen Gefangenen und unterhalte mich oft einen Moment mit ihnen. Viele sprechen mich an, wenn ihnen etwas aufliegt. Das bespreche ich dann am liebsten sofort. In neueren Gefängnissen sind die Direktionsbüros oft im Eingangsbereich, von den Gefangenen getrennt. Ich möchte aber für alle ein Ansprechpartner sein. Ich vergleiche meine Position gern mit jener eines Kapitäns: Er steht auf der Brücke, muss sich aber regelmässig bei allen zeigen, auch den Gästen.  

Besprechen die Gefangenen mit Ihnen auch Privates?  
Thematisch gibt es für mich keine Grenzen. Es geht aber oft um Sachen aus dem Alltag im Gefängnis. 

Als ich das Inserat der JVA Lenzburg sah, bewarb ich mich ehrlich gesagt aus Jux auf diese Stelle.

Kennen Sie die Biografie und Taten aller Gefangenen?
Nein. Hier wohnen 300 Männer. Vonjenen in Untersuchungshaft weiss ich sie sowieso nicht, sie sind zu kurz hier. Von rund zwei Dritteln der Gefangenen kenne ich den Namen und das Delikt. Manche fallen immer wieder auf. Die beschäftigen mich regelmässig, im Gegensatz zu den ruhigeren Gefangenen. 

Sie arbeiten seit 22 Jahren hier, haben Hunderte Tatgeschichten gehört. Warum wird ein Mensch kriminell? 
Natürlich spielt die Biografie eine Rolle, unter welchen Umständen jemand aufgewachsen ist. Viele Gefangene hatten keine schöne Kindheit, aber das trifft längst nicht auf alle zu, und nicht jeder Mensch wird dadurch zu einem Kriminellen. Was ich mit Sicherheit sagen kann: Die Kriminalität ist männlich und zwischen 18 und 35 Jahre alt. Männer in diesem Alter verüben am meisten Delikte. Sie leben in dieser Phase risikoreicher, gehen mehr an Grenzen. 

Morgens betreten Sie eine geschlossene Welt, abends verlassen Sie sie. Wie fühlt sich das an? 
Ich bin in der Dienstwohnung eines Behindertenheims aufgewachsen, da meine Mutter dort arbeitete. So lebte ich von klein auf «drin» und «draussen». Die Trennung der beiden Welten nehme ich speziell an besonderen Feiertagen wahr. Ich kann dann mit meiner Familie und Freunden feiern, die Männer hier in der JVA können das nicht. So ist es allerdings auch in anderen Institutionen. Auch im Pflegeheim muss ich einen Menschen zurücklassen, wenn ich nach Hause gehe.

Warum wollten Sie in einem Gefängnis arbeiten?
Ich war davor in der Energie- und Verfahrenstechnik tätig. Als ich das Inserat sah, in dem sie JVA einen Sicherheitsverantwortlichen suchte, bewarb ich mich ehrlich gesagt auf die Jux auf die Stelle.

Und warum machen Sie diesen Job noch immer?
Weil er mir Spass macht. Als Gefängnisdirektor darf ich das so nicht formulieren, aber es trifft zu. Ich mag die Abwechslung, Menschen, Technik, Gebäude, Organisation - kein Tag ist wie der andere. Man muss mit Freude ans Werk gehen, wenn man mit Menschen arbeitet, egal in welcher Institution.