Kein Händeschütteln mehr, kein Küsschen, keine Umarmung zur Begrüssung. Gespräche mit Nachbarn, Freunden und selbst Verwandten nur mit Abstand. Und der wöchentliche Grosseinkauf mutet an wie eine Exkursion in feindliches Gebiet. Der Feind wiederum ist unsichtbar und könnte überall lauern: in der jungen Frau, die zielstrebig mit dem Einkaufswagen vorbeizieht, oder im schnaufenden Jogger, der den Hof passiert, selbst im Kleinkind der Nachbarsfamilie.
Das Coronavirus hat unser Empfinden gegenüber anderen innerhalb weniger Wochen verändert. Die Pandemie bündle und verstärke Tendenzen, die in der Gesellschaft bereits existieren, erklärt Hartmut Rosa, Soziologieprofessor von der Universität Jena. Dazu gehört für ihn die Begegnung des Fremden mit latenter Abwehr. «Genau das wird jetzt zum körperlich stark erfahrbaren Grundmoment. Es wird der Sinn geschärft: Der andere ist eine mögliche Bedrohung.» Rosa hält das für problematisch, weil für ihn Leben gerade dann gelingt, wenn man bereit ist, sich auf etwas Neues, Fremdes, einzulassen – oftmals auch mit unklarem Ausgang.
Die Erfahrungen der Krise dürften Spuren hinterlassen, auch wenn die Gefahr einmal weitgehend gebannt sein sollte. Die Soziologin Teresa Koloma Beck forscht über Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften und stellt mit Blick auf Gefahrenvermeidung Ähnlichkeiten fest. «Verhaltensänderungen zum eigenen Schutz im öffentlichen Raum bleiben oftmals länger bestehen als eigentlich nötig.» Unbewusst verselbstständigten sich im Körper die neuen Gewohnheiten. «Selbst wenn ein Impfstoff verfügbar ist, verschwindet diese Wahrnehmung des anderen als Gefahrenträger nicht von einem Tag auf den anderen», sagt Koloma Beck, Professorin an der Universität der Bundeswehr in München und tätig am Hamburger Institut für Sozialforschung.