An die Stelle der Bilder, des Kreuzes und der Chorherren setzte Reformator Huldrych Zwingli den Urtext von der Übersetzung bis zu Auslegung und vor allem die öffentliche Diskussion darüber. So sagt es Grossmünsterpfarrer Martin Rüsch am 11. April zu Beginn der Premiere der Prophezey, welche die Zürcher Volkshochschule im Rahmen des von Kanton, Stadt Zürich und Kirche finanzierten Reformationsjubiläums durchführt.
Zusammen mit Fraumünsterpfarrer Niklaus Peter aktualisiert Rüsch das Format, das im Juni 1525 entstand und der Zürcher Reformation wichtige Impulse gab. Aus der Prophezey entstand die Zürcher Bibel. Eine Übersetzung, die nicht wie die Lutherbibel auf einsamer Textarbeit basierte, sondern auf die öffentlichen Diskussion zwischen Sprachwissenschaftlern und Theologen baute.
Vielstimmige Theologie
Rüsch und Peter wollen die Vielfalt der Theologie aufzeigen und unterschiedliche Richtungen miteinander ins Gespräch bringen. Am ersten Abend stand der Name Gottes im Zentrum und damit Exodus 3,14: «Ich werde sein, der ich sein werde.»
Theologieprofessor Konrad Schmid stellte die Stelle in den Kontext der «Karriere des biblischen Gottes», die das Alte Testament durchzieht. In einem polytheistischen Weltbild braucht Gott einen Namen, um sich von den anderen Göttern als der Wahre zu unterscheiden. Der Gott, der sich hier Mose offenbart, beharrt jedoch auf seiner Namenlosigkeit.
Die Karriere Gottes
Zudem zeigte Schmid auf, wie Weltbilder Übersetzungen prägen. So wurde Gott in der griechischen Übersetzung zur Quelle alles Seienden und sein Name quasi in die Welt der griechischen Philosophie integriert.
Pfarrer Michael Baumann, der sich der Bibelstelle kirchengeschichtlich näherte, beschrieb, wie der Name Gottes oder vielmehr sein Nichtname auf sein Wesen als «Gott der Zuwendung» verweist. Deshalb berge die Ablösung des Gottesnamens von der konkreten Not des Volkes Israel, wie sie in Exodus beschrieben wird, «die Gefahr, sich zu verlieren».
Befreiung und Einsamkeit
Von einer verwandten Gefahr sprach Pfarrerin Brigitte Becker in ihrem klugen und inspirierenden Beitrag. In der Beziehung zu einem Gott, der sich immer erst noch erweist, droht der Zustand der Einsamkeit. Auch Pfarrer Patrick Schwarzenbach lenkte den Blick in seiner Auslegung auf Gott, der zwar durch alles hindurch weht, wobei es bei diesem Luftzug zuweilen «einsam und kalt werden kann».
Zugleich betonte Becker den befreienden Charakter des Gottesnamens: «Es geht nicht darum, wer Gott ist, sondern wie er sich zeigt.» Damit werden alle männlich geprägten Gottesbilder vom König über den Herrn bis zum Hirten überwunden. Im Zentrum steht die Beziehung zu Gott, die Erfahrung, die der Mensch mit ihm machen kann. Freilich kann sich der Mensch bei der Erfahrung nie sicher sein, dass es sich tatsächlich um eine Gotteserfahrung ist, weil sich Gott der Verfügbarkeit entzieht. «Und manchmal hoffen, dass eine unangenehme Erfahrung eben gerade keine Gotteserfahrung ist.»
Der radikale Antitriumph
Das Motiv nahm zuletzt Theologieprofessor Schmid in der ihm eigenen Begeisterung für Bibelexegese auf, die ansteckend wirkt. «Gott wird nicht mehr an seiner Macht gemessen, sondern an seinem Mitsein.» In diesem «radikalen Antitriumph» bleibt Gott unverfügbar.
Die Premiere der Prophezey war ein anspruchsvoller und höchst inspirierender Abend im Chor des Grossmünsters. Zuweilen schwirrte der Kopf. Da half die Musik. Denn der von Kantor Daniel Schmid dirigierte Chor liess einen Geist durch die Worte des theologischen Diskurs wehen, der trägt und erhebt. Dass der Glaube neben der Auseinandersetzung mit den Texten auch die Seele der Musik braucht, wusste bereits der musikalisch multitalentierte Zwingli.
Der neue Mensch
Während sich die ersten beiden Folgen der Prophezey am 11. und 18. April im Grossmünster dem Alten Testament widmeten, folgt am 23. und 30. Mai im Fraumünster die Auslegung neutestamentlicher Texte. Pfarrer Herbert Kohler, Pfarrerin Tania Oldenhage, Pfarrer Thomas Muggli-Stokholm und Pfarrerin Esther Straub befassen sich mit den Seligpreisungen im Matthäusevangelium. Professor Klaus Bartels, Professorin Christiane Tietz, Pfarrer Matthias Walder und Pfarrerin Noa Zenger widmen sich neuen freien Menschen, wie sie Apostel Paulus in Galater 3, 23-29 beschreibt.