«Die Menschen sind vereint in ihrem Überlebenskampf»

Nahost

In Libanon sind Hunderttausende auf der Flucht. Es mangelt an Unterkünften, Lebensmitteln und Hygieneartikeln, berichtet Leila El Ali von der HEKS-Partnerorganisation «Najdeh».

Wie wirkt sich der aktuelle Konflikt auf die Bevölkerung im Libanon aus, besonders auf die Vertriebenen in den südlichen Gebieten?

Leila El Ali: Der Konflikt eskaliert weiter, besonders im Süden des Libanons und einigen Teilen von Beirut. Die israelischen Verteidigungsstreitkräfte haben bereits mehrere Gebiete zur Evakuierung aufgefordert, darunter auch zivile Gebäude. In einigen Regionen sind die Strassen fast leer, nur wenige Menschen bleiben. Es ist eine Strategie der Zerstörung von ziviler Infrastruktur, vergleichbar mit dem Vorgehen in Gaza. Besonders tragisch ist, dass zivile Einrichtungen, wie Krankenhäuser, ebenso wie palästinensische Geflüchtetenlager angegriffen werden. Vor Kurzem haben wir einen Mitarbeiter des palästinensischen Zivilschutzes verloren, der während eines Angriffs versuchte, Menschen zu retten.

Welche Parallelen sehen Sie zwischen den israelischen Angriffen im Libanon und den Geschehnissen in Gaza?

Es scheint, als verfolge Israel dieselbe Strategie wie in Gaza. Zivile Einrichtungen, medizinisches Personal, Krankenhäuser – all das wird ins Visier genommen. In den letzten Tagen wurden Gebiete in der Nähe zweier Krankenhäuser im Süden Beiruts angegriffen, genauso wie palästinensische Geflüchtetenlager im Süden. Bis jetzt wurden drei dieser Lager angegriffen. Die Zerstörung ist gewaltig, und das Leid der Zivilbevölkerung wächst.

Leila El Ali

Leila El Ali

Sie ist Geschäftsführerin des feministisch-palästinensischen Hilfswerks «Najdeh». Die lokale Partnerorganisation von HEKS verteilt in einem ersten Schritt Lebensmittel, Matratzen und Decken an vertriebene Familien.

Was sind die dringendsten Bedürfnisse der vertriebenen Menschen, die keine Unterkünfte mehr haben?

Die Situation im Libanon war bereits durch die wirtschaftliche Krise und die Auswirkungen von COVID-19 angespannt. Nun, mit dem anhaltenden Konflikt, ist die Regierung schlichtweg nicht in der Lage, alle intern Vertriebenen zu unterstützen. Viele Menschen schlafen auf den Strassen oder in offenen Bereichen. Vor allem in den palästinensischen Lagern gibt es einen enormen Mangel an Unterkünften. Die dringendsten Bedürfnisse sind Schlafplätze wie Matratzen und Decken, aber auch Hygieneartikel, insbesondere für Frauen. Der Winter steht vor der Tür, und viele haben nur Sommerdecken. Auch Lebensmittel sind knapp, ebenso wie sichere Unterkünfte.

Wie unterstützt Ihre Organisation die Betroffenen des Konflikts, insbesondere in den Flüchtlingslagern?

Unsere Organisation ist in allen palästinensischen Lagern im Land aktiv, mit 34 Zentren in 12 Lagern und 5 informellen Siedlungen. Doch selbst wir mussten einige unserer Zentren aufgrund der Angriffe evakuieren. Unsere Mitarbeiter wurden vertrieben, aber sie arbeiten weiterhin daran, die Menschen zu unterstützen. Vor dem 23. September, als wir eine Eskalation der Gewalt erwarteten, haben wir begonnen, uns auf den Notfall vorzubereiten und einige finanzielle Mittel von unseren Partnern wie Christian Aid und Cafod zu mobilisieren. Heks hat uns sofort Geld geschickt für Nothilfe, ohne Konzeptpapier oder detaillierte Anträge. Dennoch sind diese Mittel im Vergleich zu früheren Krisen, wie der Syrienkrise oder der Explosionskatastrophe in Beirut, sehr begrenzt. Wir konzentrieren uns hauptsächlich auf die Verteilung von Matratzen, Decken und Lebensmitteln, basierend auf den Bedürfnissen, die wir in einer schnellen Erhebung identifiziert haben.

Schutzlos ausgeliefert

Nach dem Ausbruch des Krieges in Israel/Palästina im Oktober 2023 sind jüngst auch die Kampfhandlungen zwischen der Hisbollah-Miliz und der israelischen Armee im Grenzgebiet zum Libanon eskaliert. Die dortige Zivilbevölkerung ist dieser jüngsten Gewalteskalation weitgehend schutzlos ausgeliefert. Mehr als eine Million Menschen waren in den letzten Tagen gemäss HEKS gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen und Zuflucht in anderen Regionen des Landes zu suchen. Dementsprechend gross sind die Not und der Bedarf an humanitärer Hilfe für die Menschen im Libanon, die zusätzlich unter der verheerendsten Wirtschafts- und Finanzkrise in der Geschichte ihres Landes leiden.

Welche Herausforderungen stehen Ihnen bei der Bereitstellung von Hilfeleistungen im Weg?

Eine der grössten Herausforderungen ist der Mangel an finanziellen Mitteln. Die internationale Gemeinschaft hat bisher nur sehr begrenzt Unterstützung angeboten, was es uns schwer macht, die wachsenden Bedürfnisse zu decken. Zudem ist der Transport von Hilfsgütern in die betroffenen Gebiete äusserst gefährlich, da die Strassen und Autobahnen gezielt angegriffen werden. Es gibt Gebiete, die wir schlichtweg nicht erreichen können, wie etwa Teile des Südlibanons oder die Region Baalbek. Selbst große internationale Organisationen wie UNICEF haben erklärt, dass sie diese Gebiete aus Sicherheitsgründen nicht beliefern können.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen den religiösen Gruppen, den Muslimen, Christen und Drusen, wenn es um die Unterstützung der Vertriebenen im Libanon geht?

In einer solchen Krisensituation spielt die Religion keine Rolle. Menschen flüchten überallhin, wo sie Schutz finden können, unabhängig davon, ob es sich um ein muslimisches oder christliches Gebiet handelt. In den betroffenen Gebieten unterstützen sich die verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen gegenseitig so gut sie können. Es gibt keine Spannungen, sondern vielmehr Solidarität. Die Menschen sind vereint in ihrem Überlebenskampf.

Was sind Ihre Hoffnungen für die Zukunft und welche Rolle sollte die internationale Gemeinschaft dabei spielen, um den Konflikt zu lösen?

Meine Hoffnung liegt vor allem darin, dass die internationalen Gemeinschaften, besonders die Vereinten Nationen und der Sicherheitsrat, endlich Verantwortung übernehmen. Israel muss seine Aggressionen gegen Zivilisten stoppen. Der UN-Sicherheitsrat sollte seine eigenen Resolutionen durchsetzen, und die internationale Gemeinschaft sollte ihre Konventionen respektieren. Das Ausmass der Zerstörung, sowohl im Libanon als auch in Gaza, ist erschütternd. Ganze Stadtteile liegen in Trümmern, und immer noch sind Menschen unter den Trümmern begraben. Diese Gewalt muss ein Ende finden, bevor noch mehr unschuldige Menschenleben verloren gehen.