Die Kritik an der integrativen Schule nimmt zu

Bildung

Um die Volksschule zu entlasten, sollen Kinder mit besonderen Bedürfnissen separat unterrichtet werden, fordern mehrere Initiativen. Ist die integrative Schule gescheitert?

Die Volksschule sei «am Anschlag». Mit diesen Worten kündigte die FDP kurz vor den Sommerferien an, sie wolle die Weichen in der Bildungspolitik neu ausrichten. 

In einem Positionspapier benannte die Partei 17 Handlungsfelder. So sollen etwa Kinder mit besonderen Bedürfnissen, aber auch fremdsprachige Kinder wieder vermehrt separat unterrichtet werden. 

In die gleiche Richtung zielt die Förderklasseninitiative im Kanton Zürich, hinter der Mitglieder von FDP, SVP, GLP und EVP stehen. Die Vorlage wurde am 18. Juli eingereicht und fordert, dass Schülerinnen und Schüler mit Lern- oder Verhaltensauffälligkeiten für mindestens ein Semester in heilpädagogisch geführte Förderklassen versetzt werden dürfen. In Bern und Basel-Stadt gab es ähnliche Vorstösse.

Belastung ist hoch

Die Situation sei in vielen Klassen unbestritten schwierig, sagt Dorothee Miyoshi, Geschäftsleitungsmitglied beim Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, gegenüber «reformiert.». «Die Kinder sind heute sehr divers und Lehrpersonen entsprechend gefordert.»

Fremdsprachige, traumatisierte oder verhaltensauffällige Kinder sitzen neben solchen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung, ADHS, Hochbegabung oder mit Autismus-Spektrum-Störungen. «Würden wir alle Kinder mit besonderen Bedürfnissen aussortieren, blieben in manchen Klassen weniger als eine Handvoll Schüler und Schülerinnen übrig», sagt Miyoshi, die in Basel als Heilpädagogin arbeitet.

Seit 2004 sind in der Schweiz die Kantone gesetzlich verpflichtet, die Integration von Kindern mit speziellem Bildungsbedarf umzusetzen.

In den letzten 20 Jahren ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die in heilpädagogischen Sonderschulen unterrichtet werden, von über 50 000 auf knapp 30 000 gesunken. In manchen Fällen brauche es auch heute separative Angebote, sagt Miyoshi. Inklusion sei aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Wir brauchen die gemeinsame Sockelerfahrung der Volksschule.
Erika Cahenzli, Kirchenratspräsidentin Graubünden

Und eine, die sich stark an humanistischen und christlichen Werten wie Nächstenliebe und Teilhabe aller an der Gesellschaft orientiert. Für die Graubündner Kirchenratspräsidentin Erika Cahenzli wäre es deshalb ein Rückschritt, wieder mehr separative Angebote einzuführen. «Wir brauchen die gemeinsame Sockelerfahrung der Volksschule, sie ist der Kitt unserer Gesellschaft in einer Zeit, wo Kirche oder Traditionen nur noch Teile der Bevölkerung verbinden», sagt sie. Cahenzli arbeitete bis vor sechs Jahren als Primarlehrerin, sie kennt den Schulalltag aus eigener Erfahrung. «Der Schule wurde in den vergangenen Jahren zu viel aufgeladen, ohne die Lehrpersonen ausreichend zu unterstützen.» Das müsse sich ändern.

Leistung neu definieren

Damit die inklusive Schule gelinge, brauche es kleinere Klassen, eine bessere Verteilung der Kinder mit besonderen Bedürfnissen, sagt Cahenzli. Zudem fordert sie mehr finanzielle und personelle Ressourcen. Und nicht zuletzt den Rückhalt aus Politik und Gesellschaft. 

Dann profitierten alle von Inklusion, sagt auch Sabine Gade. Sie ist Koordinatorin Heilpädagogik bei der Zürcher Landeskirche. «Treffen Lernende mit unterschiedlichen Fähigkeiten aufeinander, kann dies dazu anregen, den Leistungsbegriff neu zu definieren.» Damit falle vielleicht etwas vom Leistungsdruck ab, unter dem in der Schule alle stünden.