Kultur 16. September 2024, von Veronica Bonilla Gurzeler

Wenn das Ventil des Erzählens sich öffnet

Biografien

In «Fragen hätte ich noch» erinnern sich 30 Autoren an ihre Grosseltern. Eine Spurensuche durch Europa und darüber hinaus.

Immer wieder erzählte die Mutter von Wolfram Schneider-Lastin im Pflegeheim dieselbe Geschichte: Wie sie als junges Mädchen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zum Fenster hinausschaute und den totgeglaubten Vater die Strasse herunterkommen sah – ein Wunder! 

Irgendwann wollte der Literat und Schauspieler Schneider-Lastin mehr wissen über diesen Mann, seinen Grossvater. Er forschte nach und schrieb dessen Geschichte für die eigene Familie auf. 

Die Vergangenheit lebt auf

Als er den Text mit Bekannten teilte, geschah etwas Überraschendes: Als wäre ein verborgenes Ventil geöffnet worden, erzählten sie Schneider-Lastin von ihren eigenen Grosseltern. So trat lange «Verschüttetes zutage, zeithistorisch Spannendes, Berührendes, aber auch Schmerzhaftes», schreibt der Herausgeber. 

Bald war die Idee geboren, diese Geschichten über die «vorletzte Generation» zu sammeln und in einem Buch zu veröffentlichen. Schneider-Lastin wurde zum Herausgeber, fragte Schriftstellerinnen und Autoren gezielt an, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Andere boten ihm unaufgefordert an, eigene Texte beizusteuern. Neben bekannten Namen wie Alex Capus oder dem Zürcher Jungtalent Nelio Biedermann («Anton will bleiben») finden sich auch Schauspieler, Mediziner und Menschen anderer Berufe. 

Verschüttetes kam zutage, Schmerzhaftes, Berührendes.

Entstanden ist ein Buch, das nicht in einem Zug gelesen werden will. Jede einzelne der 30 Geschichten lässt einen Menschen mit seinem Schicksal in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufleben. In der Schweiz, in Deutschland, Italien, Polen, Ungarn, Israel und Pakistan. 

In den Rückschauen zeigt sich, wie stark die gesellschaftlichen Bedingungen und politischen Umstände das individuelle Leben prägten und wie unterschiedlich die Menschen damit umgegangen sind. Augenfällig werden auch Gemeinsamkeiten, etwa wenn Grosseltern Zuflucht im Schweigen suchten. Es war ihre Bewältigungsstrategie für das Unaussprechbare. 

Auseinandersetzung befreit

Da Enkel oft mit einer grösseren Distanz auf die Grosseltern schauen und emotional weniger verstrickt mit ihnen sind als mit den Eltern, erinnern sich viele an sie als Vorbilder und würdigen ihr Leben. 

Einzelne machen keinen Hehl daraus, dass ein Erbe auf ihnen lastet, das sie bis heute ablehnen. Und dass die Auseinandersetzung damit zwar schmerzhaft, aber letztlich befreiend ist.

Wolfram Schneider-Lastin (Hg.): Fragen hätte ich noch. Rotpunktverlag, 2024

Lesungen im Rahmen von «Zürich liest» am 26. und 27. September 2024 sowie weitere Veranstaltungen finden sich hier

Eine der Autorinnen im Buch ist Esther Banz. Die in Zürich lebende Journalistin arbeitet auch lebensgeschichtlich und moderiert Erzählcafés. Mit dem Buch im Rucksack reist sie an beliebige Orte und lädt die Menschen dazu ein, selber zu erzählen. Kontakt: