Eine Strassenumfrage der «reformiert.»-Redaktion zeigt, dass viele Befragte die kirchliche Gemeinschaft nicht als erste wählen, um ihren Glauben zu leben. Laut einer Studie verloren Kirchen 30 Prozent der Mitglieder. Wo driften Kirche und Gesellschaft auseinander?
Urs von Orelli: In einer unterschiedlichen Wahrnehmung. Studien zeigen, dass die Gesellschaft die Kirche ganz anders wahrnimmt, als die Kirche sich selbst sieht. Wir drehen uns in unserem immer kleiner werdenden Milieu im Kreis.
Können Sie das genauer ausführen?
Wie weit ist die Kirche offen, sich wirklich zu verändern? Natürlich darf man bei der Kirche mitmachen, aber wie offen ist sie, wenn es um das Mitprägen neuer Formen, Werte und Regeln geht? Partizipation bedeutet, Räume zu eröffnen, welche die Menschen dann prägen dürfen. Doch wie offen ist beispielsweise eine Kirchgemeinde, wenn andere Personen kommen, als man es sich bis dahin gewohnt ist? Sind wir als Kirche dafür wirklich parat?
Die Kirche ist also bedingt offen?
Wir sprechen ja immer von Willkommenskultur. Dafür muss aber einer kommen wollen. Daran hapert es zunehmend. Wir brauchen daher eher eine «Hinausgeh-Kultur». Hinausgehen aus den Häusern und Kirchen, mit den Menschen unterwegs sein. Sich ins Treiben der Quartiere hineinbegeben und sich den Sorgen und Nöten der Menschen aussetzen. Wenn mancherorts immer noch die gleichen Angebote geführt werden wie vor zehn Jahren, dann hat man den gesellschaftlichen Wandel ganz offensichtlich verpasst.
Haben Sie ein Beispiel?
Ich begleite eine Gemeinde, die im Gottesdienst durchschnittlich nur noch sieben Personen hatte und etwas verändern wollte. Die Frage war: Wo fangen wir an? Als Antwort hat sich das Konzept des Kühlschrank-Pastorals bewährt.
Kühlschrank-Pastoral?
Es geht darum, die Ressourcen zu nutzen, die noch da sind. Im übertragenen Sinn schaut man in den «Kühlschrank» der Gemeinde: Welche Menschen haben wir? Welche Talente und Möglichkeiten gibt es? In diesem Fall hat die Pfarrperson die wenigen verbliebenen Gemeindemitglieder zusammengebracht. Mit dieser kleinen Gruppe sind sie ins Dorf gegangen, direkt auf die Strasse, und haben mit den Menschen gesprochen. Ein bisschen so, wie ihr das als Redaktion in Chur gemacht habt.
Und was hat die Gruppe die Menschen im Dorf gefragt?
Es ging darum, die Besonderheiten der Menschen, des Ortes zu entdecken. Es gab keinen Fragenkatalog. Eher: Wie geht es dir? Was sind deine Bedürfnisse? Wärst du bereit, etwas für unser Dorf mitzugestalten?
Und das Resultat?
Einige der Befragten auf der Strasse haben gesagt, dass sie es eine gute Sache fänden und auch gern mitmachen wollten. Die Gruppe hat herausgefunden, dass es sich um ein «Schlafdorf» handelt und es fast keine Vereine mehr gibt und sich Einwohnerinnen und Einwohner auch immer weniger kennen. Die Kirche setzt jetzt dort an, in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen.
Müssen wir als Kirche also beweglicher werden im wahrsten Sinn?
Wenn eine Kirche anfängt sich zu verschenken, werden die Menschen wieder sehen und spüren, wer sie ist. Sie bekommt wieder ein Gesicht. Ich glaube, das ist der Unterschied zur Wirtschaft. Wenn wir bei Gott etwas verschenken, verlieren wir nicht, sondern bekommen etwas zurück. Ich sehe es als Auftrag in der Nachfolge Jesu, dass die Kirche und alle, die sich ihr zugehörig fühlen, sich den Menschen zuwenden.
Die Haltung hinter der kirchlichen Arbeit ist also entscheidend für Sie.
Auf jeden Fall. Im Umgang mit Menschen geht es immer um einen Prozess, einen Weg, den man geht. Wenn man den Menschen mit Offenheit begegnet, können wir nicht nur aus fertigen Programmen oder Angeboten denken. Man muss ein Herz für das Evangelium haben und ein Herz für die uns anvertrauten Menschen. Das sollte sich in jeder Aktivität widerspiegeln. Dann gewinnt die Kirche an Relevanz.
Apropos Relevanz. Bei unserer Umfrage wollten so gut wie alle Befragten die Kirchgebäude erhalten. Was sagen Sie als Architekt dazu?
Ich plädiere dafür, in dieser Sache nicht nur ökonomisch zu denken, sondern auch ökologisch und sozial. Wo können wir mit unseren oft im Zentrum liegenden Gebäuden einen Beitrag zu sozial intelligentem Raum für die Gesellschaft leisten? Heute fragt man leider oft nur nach dem Unterhalt der Gebäude.
Und die schönen alten Kirchen?
Wir sollten anfangen zu überlegen, wie wir die Kirchen auch vermehrt für Kunst und Kultur öffnen können. Das ist spannend.