Psalmrezitation und Sonnengrüsse: Beliebt bei Kirchenfernen

Spiritualität

Gott durch Bewegung nah sein: In der reformierten Kirche Möhlin (AG) wird Liturgie mit Atem- und Körperübungen aus dem Yoga verwoben. Die sinnliche Erfahrung spricht viele an. 

Die Szenerie ist für regelmässige Kirchgänger und Kirchgängerinnen alles andere als gewohnt: Die vordersten zehn Kirchenbänke in der reformierten Kirche Möhlin wurden abmontiert. Stattdessen liegen graue Gymnastikmatten und Meditationskissen auf dem Holzboden. 

Draussen läuten wie gewohnt die Glocken vor dem Gottesdienst. Sigristin Heidi Blaser empfängt zusammen mit ihrer Tochter Martina bei der Eingangstür die Besucherinnen und Besucher. Heute sind es etwas weniger als beim ersten Yoga-Gottesdienst Anfang Januar, als rund dreissig Leute das neuste Format kennenlernen wollten. «Das strube Wetter hat wohl den einen oder die andere davon abgehalten, heute Abend auf den Kirchhügel zu kommen», spekuliert Pfarrerin Nadja Huser mit einem Lächeln. Tatsächlich bin ich froh, rechtzeitig angekommen zu sein: Vor wenigen Minuten rollte ein heftiger Gewittersturm mit sintflutartigen Regengüssen über Möhlin und das untere Fricktal.

Der Körper als Tor 

Während Huser die paar Stufen in den Chorraum hinaufgeht, setze ich mich auf die Yogamatte und lausche den Orgelklängen. Jetzt nimmt auch Yogalehrer Claude Chautems seinen Platz ein, direkt neben der Pfarrerin. Der 66-Jährige ist Kirchenpflegepräsident und hat in der Coronazeit eine Ausbildung zum Yogalehrer gemacht. Einen Moment lang ist es still in der Kirche. 

Für alle, die heute das erste Mal hier sind, erklärt Huser, wieso im Gottesdienst neuerdings Yoga gemacht wird. «Es gibt unterschiedliche Formen, Gott zu erleben: durch Gesang, während einer Predigt, in der Natur oder in Gemeinschaft.» Und ebenso durch den Körper. 

«Denn wer Gott über Bewegung wahrnimmt, erhält in unserer Kirche nicht viele Möglichkeiten», sagt die 34-Jährige mit Bedauern in der Stimme. Ich erinnere mich an ein Telefongespräch mit ihr vor ein paar Tagen. Sie erzählte, dass Yoga ein sehr wichtiger Teil ihrer persönlichen Spiritualität sei. Durch die Körperübungen habe sie ganz neu zu Gott gefunden. «Ich bin überzeugt, dass Gott gerade jetzt mitten unter uns ist», fährt Huser fort. «So feiern wir jetzt einen Gottesdienst im Namen des einen Gottes.»

Ich bin sicher, dass Gott gerade jetzt mitten unter uns ist.
Nadja Huser, Pfarrerin in Möhlin AG

Wir fangen an mit einer Atemübung. Luft einströmen lassen, halten, ausatmen. Erste Anspannungen lösen sich. Es entfaltet sich ein besonderer Rhythmus: In der folgenden Stunde verweben die Pfarrerin und der Yogalehrer liturgische Elemente mit Körper- und Atemübungen. Sie weisen darauf hin, es gehe nicht um Leistung, sondern darum, den Körper nur so weit zu fordern, wie es ihm guttut. 

Mit freundlicher Stimme leitetClaude Chautems die als Asanas bezeichneten Übungen an: den Sonnengruss, das Krokodil, das Kamel. Beim Baum verlagern wir das Gewicht auf das linke Bein, heben das rechte leicht an und platzieren die Fusssohle an der Innenseite des linken Oberschenkels. Mit den Armen bilden wir eine Krone. Manche Bäume sind wackelig, geraten in Schieflage. Während wir in verschiedenen Stellungen innehalten, spricht Huser Teile von Psalm 63,2: «Gott! Du bist mein Gott, dich suche ich.» Dazwischen singen wir drei Taizé-Lieder, die Christine Frei auf der Panflöte begleitet. 

Innere Aufrichtung 

Die Bewegungen sind für mich nicht neu. Ich lernte Yoga vor vielen Jahren kennen, als ich mich mit Schwangerschaftsyoga auf die Geburt des  ersten Kindes vorbereitete. Wegen  Rückenschmerzen gewöhnte ich mir später eine regelmässige Yogapraxis an und mochte das Zwiegespräch mit meinem eigenen Körper bald nicht mehr missen.

Auch diesmal erlebe ich es deutlich: Während sich mein Körper in den Asanas gerade ausrichtet, spüre ich, wie ich mich innerlich aufrichte und die Gedanken durch das tiefe Ein- und Ausatmen in den Hintergrund treten. Die mantraartige Psalmrezitation lässt mich innerlich ruhig werden.  

Vaterunser und Segen 

Zum Abschluss strecken wir uns auf der Yogamatte aus, spüren der Körperenergie nach. Ich blicke zu den bunten Fenstern, die im Licht der Abendsonne strahlen, und lausche Husers Stimme: «Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.» Ich fühle mich aufgehoben und von den hellen Kirchenmauern umfangen. 

Nach dem Vaterunser und dem Segen steht im Saal nebenan eine kleine Stärkung bereit. Der Yoga-Gottesdienst sei eine gute Sache, sagen die Teilnehmer. Manche von ihnen kommen sonst selten oder gar nie in die Kirche. 

Auch Chautems ist zufrieden. Er und ein paar Helfer rollen die Bänke wieder zurück an ihren Platz, drehen mit surrendem Akkubohrer die Schrauben fest, schliessen die Heizung wieder an. Der Aufwand ist zwar beträchtlich. «Aber es lohnt sich allemal», sagt Chautems und lächelt.Veronica Bonilla Gurzeler