Gesellschaft 11. Oktober 2024, von Felix Reich

Wann ist ein Hilfswerk christlich genug?

Diakonie

Eine Kommission des Parlaments der Kirchgemeinde Zürich stellt die Unterstützung für das Hilfswerk Solidara infrage. Die frühere Zürcher Stadtmission sei nicht mehr christlich. 

Für die Zürcher Kirchenpflegerin Claudia Bretscher ist Solidara eine Erfolgsgeschichte. Das Hilfswerk, das in Zürich das Café Yucca sowie mit der Isla Victoria eine Anlaufstelle für Prostituierte betreibt, hatte sich 2016 von der Evangelischen Gesellschaft gelöst. 

Weil die römisch-katholischen Kirchgemeinden der Stadt Zürich ihre Unterstützung mehr als verdoppelten und nun mit einer halben Million Franken so viel zahlen wie die Reformierten, konnte das durch die Verselbstständigung entstandene Finanzloch von 750 000 Franken weitgehend gestopft werden. Die reformierte Kirche wollte nicht allein in die Bresche springen.

Fehlende Bindung

Die Kommission für Diakonie, Bildung und Kommunikation des Parlaments der Kirchgemeinde Zürich definiert Erfolg offensichtlich anders. Nur vier Jahre nach Etablierung des neuen Finanzierungsmodells will sie die Sockelfinanzierung kippen und den Antrag der Kirchenpflege zurückweisen. 

Als konfessionell ungebundener Verein handle das Hilfswerk «neu nicht mehr aus dem Evangelium heraus», begründet die Kommission den Antrag. Öffentlich äussern wollen sich die Mitglieder nicht. Das Parlament entscheidet am 31. Oktober.

Von der Stadtmission zu Solidara

2016 hatte sich das 1862 gegründete Hilfswerk Solidara von der Evangelischen Gesellschaft gelöst, 2021 wurde der Name Zürcher Stadtmission aufgegeben. Die reformierte Kirchgemeinde Zürich, der Verband der römisch-katholischen Kirchgemeinden der Stadt Zürich sowie die christkatholische Kirche besetzen im Vorstand fünf Sitze. Aus dem kirchlichen Umfeld kommen der Pfarrer und Diakonieprofessor Christoph Sigrist sowie Martin Ruhwinkel von Caritas Zürich hinzu.

Laut Statuten betreibt der Verein «keine Glaubensmission und respektiert die Glaubenshaltung und Religionszugehörigkeit jedes Einzelnen». Solidara ist im Zürcher Niederdorf mit dem Café Yucca präsent. Darüber hinaus gehört die Isla Victoria in Zürich und Winterthur zum Angebot des Hilfswerks. In der niederschwelligen Anlaufstelle erhalten Sexarbeitende Beratung in sozialen, gesundheitlichen und rechtlichen Fragen.

Laut Kommissionsantrag steht die Glaubwürdigkeit der Kirche auf dem Spiel, wenn sie ein Hilfswerk finanziert, das sich von den «christlichen Wurzeln getrennt» habe. Unter Spardruck müsse die Kirche ihre Mittel gezielt für christliche und reformierte Organisationen einsetzen. 

Eine wichtige Debatte

«Völlig perplex» reagiert Claudia Bretscher auf den Vorwurf, Solidara sei nicht christlich. «Was das Werk tut, entspricht voll und ganz dem Evangelium.» Die Kommission habe eine «wichtige Debatte» lanciert, sagt Pfarrer Christoph Sigrist, der an der Universität Zürich die Forschungsstelle Urbane Diakonie leitet. Allerdings richte sich das diakonische Handeln «allein nach der Not der Menschen aus».   

Nachvollziehen kann Bretscher hingegen den «legitimen Wunsch», dass das Engagement der Kirche für Menschen in Not stärker wahrgenommen wird. Freilich stehe hier in erster Linie die Kirche selbst in der Pflicht. Im Auftritt und in Publikationen von Solidara sei stets ersichtlich, dass die Kirchen wichtige Mitglieder und Geldgeberinnen seien. 

Beatrice Bänninger, Geschäftsführerin von Solidara, verweist darauf, dass die Neuaufstellung des Werks und das Ablegen des «stark reformiert konnotierten Namens» Zürcher Stadtmission in enger Zusammenarbeit mit den Kirchen erfolgt sei. «Unsere Strategie entwickelten wir mit den Kirchen gemeinsam.» 

Einschneidende Auswirkungen

Wenn sich die reformierte Kirchgemeinde zurückziehen würde, wäre dies für das Hilfswerk einschneidend. Einen Fünftel der Einnahmen im Budget ersetzen zu müssen, sei «sehr schwierig», sagt Bänninger.   

Eine Hintertür lässt die Kommission offen. Sie will die Beiträge auf zwei Jahre befristen. So lange soll Solidara Zeit bekommen, «wieder ein christlicher Verein zu werden».  

Dafür wäre eine Statutenänderung nötig. Bretscher müsste das Anliegen im Vorstand von Solidara wohl einbringen. «Unterstützen würde ich es nicht.» Die interreligiöse Ausrichtung sei ein Gebot der Stunde. Inzwischen gehört auch die Israelitische Cultusgemeinde Zürich zu den Mitgliedern bei Solidara.