«Kunst am Bau fordert mehr Respekt und Sorgfalt»

Kultur

Eine Installation der Zürcher Künstlerin Shirana Shahbazi wird das Gerüst des Grossmünsters umhüllen. Ein Interview über Sakralbauten und Kunst im öffentlichen Raum. 

Sie wohnen seit über 20 Jahren  in Zürich. Welche Bedeutung hat für Sie das Grossmünster?
Shirana Shahbazi: Es ist Teil der Topografie und Geschichte Zürichs. Allerdings bin ich im Alltag eher selten in der Altstadt und am Seeufer unterwegs. Das Leben in Zürich ist je nach Quartier sehr unterschiedlich. Ich lebe im Kreis vier in der Hardau, dort bin ich zu Hause in einer gewachsenen Gemeinschaft, der ich mich sehr zugehörig fühle.

Nun gestalten Sie die abgedeckte Fassade des Grossmünsters. Was reizt Sie am Projekt?
Die Einladung zum Wettbewerb war für mich als Zürcher Künstlerin eine besondere Freude. Mich interessiert am Grossmünster neben seiner Bedeutung als Ort natürlich auch die grosse Dimension. In der Schweiz entscheidet man sich bei Kunst im öffentlichen Raum oft für sehr zurückhaltende Kunst. Kunst, die sich beinahe durch ihre Unsichtbarkeit auszeichnet oder es allen recht machen will, die ja nicht aneckt. Dass so ein grosser Perimeter freigegeben wird für Kunst, die sich nicht verstecken soll, ist schon sensationell. Ausserdem besuche ich Sakralbauten aller Art sehr gerne. 

Shirana Shahbazi

1974 in Teheran geboren, emigrierte Shahbazi elf Jahre später mit ihrer  Familie nach Deutschland. Sie studierte Fotografie in Dortmund, später an  der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich, wo sie seitdem  wohnt. Shahbazis Werke bewegen sich oft an der Schnittstelle zwischen  Fotografie und Grafik. 2019 erhielt die Künstlerin den Prix Meret Oppenheim. 

Was geben Ihnen diese Orte?
Es sind Orte, die ganzheitlich gedacht sind und durch ihre Grosszügigkeit und ihr Selbstbewusstsein eine Ruhe schaffen. Teils lässt sich so etwas auch in der Natur erleben, zum Beispiel in einem Wald oder in der Wüste. Mir gefällt das Zusammenkommen unterschiedlicher Materialien, Klang, Grösse, Klima und natürlich auch Kunst und Geschichte. Das erlebe ich auch in Moscheen im Iran so. Diese Räume sind auf eigenwillige Art dem Menschen zugewandt. Und hier schliesst sich für mich ein Kreis, denn ich sehe bei diesem Projekt auch eine gesellschaftliche und politische Komponente.

Inwiefern?
Die soziale Funktion der Kirche ist neben ihrer historischen sowie der kunsthistorischen Bedeutung das, was mich an ihr interessiert. Dieser Auftrag wird am Grossmünster sehr ernst genommen, etwa in der Arbeit mit Randständigen und sozial Bedürftigen. Im Briefing für den Wettbewerb wurde betont, dass die Stadt sehr heterogen und diese Kirche eine Anlaufstelle für ganz verschiedene Menschen ist. Gerade in diesen Zeiten, in denen grosse Orien-tierungslosigkeit herrscht und der Populismus zunimmt, sind Orte, die an ihrem sozialen Auftrag festhalten und der Komplexität unserer Welt gerecht werden, wichtig. 

Kunst kann Räume schaffen, in denen man sich anders fühlen oder anders begegnen kann.

Das Projekt soll ja auch einladen, inhaltlich in die Tiefe zu gehen. Werden Sie Bezüge zu aktuellen Themen schaffen oder denken  Sie an konkrete Aussagen?
Mit eindimensionalen Aussagen habe ich grundsätzlich ein Problem. Wir sind umzingelt von Werbung und Slogans, die einen sind weniger schlimm, die anderen extrem fragwürdig bis schockierend. Ich bin ja auch keine Werbetexterin, viel eher will ich mit Kunst einen Raum schaffen, der verschiedene Bedeutungen zulässt, sich Komplexität bewahrt. Wo wir nicht alles auf eine Aussage verflachen müssen.

Der Deutungsraum ist also weit?
Genau, aber das ist nicht zu verwechseln mit Beliebigkeit. Bedeutung hat immer auch etwas mit Perspektive zu tun und bleibt veränderlich. Ich möchte für die Komplexität der Kunst und der visuellen Sprache einstehen. Wir müssen nicht immer alles auf den ersten Blick verstehen, wir dürfen uns stattdessen Zeit nehmen, verweilen und nachdenken. Der Arbeit immer wieder neu begegnen und unterschiedlich eintauchen. Die Kirche will ein Ort für viele Menschen sein. Deshalb muss auch die Kunst am Bau auf unterschiedliche Art zugänglich sein. Sie soll nicht nur dekorativ, aber schon visuell ansprechend sein.

Und plakativ?
Meine Arbeit zeichnet sich grundsätzlich nicht durch Zurückhaltung aus, sondern durch Sichtbarkeit und eine gewisse Grosszügigkeit. Es geht mir nicht um Provokation oder darum, laut zu sein. Aber Kunst kann Räume schaffen, in denen man sich anders fühlen oder anders begegnen kann. Dass die Installation temporär ist, bietet die Chance, etwas zu wagen mit Blick auf das, was Kunst darf, kann und soll. Es ist wichtig, uns zu fragen, wem öffentliche Räume eigentlich gehören. 

Eingepackte Kirche

Das Grossmünster wird in den nächs-
ten Jahren umfassend instand gesetzt. Unter anderem werden Schäden an Sandsteinfassade und Dachgebälk behoben. Dazu wird das Wahrzeichen  ab 2026 für zwei Jahre vollständig eingerüstet sein. Das Gerüst wird dabei zur Projektionsfläche für eine farbige Collage von Shirana Shahbazi, wie
eine Jury aus Stadt-, Kantons- und Kirchenvertretern entschied. 

Sie sagten einmal, dass in Ihren Werken die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit stets am  Anfang steht. Was heisst das?
Ich komme von der Fotografie her, und in der geht es um die Sehnsucht, die Wirklichkeit festzuhalten. Lässt man von ihr los, hat man eine andere Erwartung an Bilder, Bildräume oder fotografische Arbeiten. Im gleichen Bild entstehen verschiedene Bedeutungsräume. Es gibt immer mehrere Wirklichkeiten gleichzeitig. Das ist bei mir sicher auch durch meine eigene Biografie beeinflusst.

Sie sind in Teheran geboren, verbrachten einen Grossteil ihrer Kindheit in Deutschland. Wie hat Sie dieser Hintergrund geprägt?
Ich glaube, der Background hat immer Einfluss, egal ob man ihn nun bewusst ins Zentrum des Schaffens stellt oder sich davon abwendet. Meine Migrationsgeschichte, zu der auch die Jahre in Deutschland und der Schweiz gehören, wird immer mitgelesen. Auch der Kontext, in dem man arbeitet, prägt: das Publikum, die Mittel. Als junge Iranerin, die in Westeuropa lebt und arbeitet, musste ich mir einen künstlerischen Freiraum erarbeiten. 

Es ist auch eine Chance, mutiger an das Projekt heranzugehen.

Wie präsent ist Ihre Kunst im Iran?
Vor vielen Jahren hatte ich dort einmal eine kleine Ausstellung. Und tatsächlich werde ich jetzt ab Herbst wieder dort ausstellen. Meine Arbeit scheint für die derzeit jüngere Generation relevanter zu sein.

Ihre Installation am Grossmünster wird nach zwei oder drei Jahren wieder abgebaut und verschwinden. Schmerzt Sie das?
Es ist auch eine Chance, mutiger an das Projekt heranzugehen. Wäre die Kunst am Bau nicht temporär, wäre die Entscheidung für das Projekt sicher auch schwerfälliger gewesen. Und eine Ausstellung dauert auch bloss einen bestimmten Zeitraum. Künstlerinnen und Künstler müssen damit leben, dass ihre Arbeiten kurz in Erscheinung treten und dann wieder verschwinden. Die Erinnerung an diese Arbeit wird jedoch bleiben.

Sie haben schon mehrere Kunst-am-Bau-Projekte gemacht. Macht es einen Unterschied, ob Kunst  im öffentlichen Raum gezeigt wird oder in einer Ausstellung?
Kunst am Bau bringt eine andere Verantwortung mit sich, sie erfordert mehr Respekt und Sorgfalt, weil die Menschen – anders als in einer Ausstellung – unfreiwillig mit ihr konfrontiert werden. Sie bringt auch andere Materialien und Möglichkeiten mit sich. Das finde ich besonders reizvoll.