An Grenzen gehen mag sie besonders

Seelsorge

Das Leben jenseits der Komfortzone interessierte Corinne Dobler immer schon mehr. Die Frau mit dem grossen Erfahrungsrucksack beantwortet neu bei «reformiert.» Leserfragen.

Es war die kürzeste Halloween-Feier, die Corinne Dobler je erlebt hat. Allerdings hat sie keine bisher so gerührt. Eine halbe Stunde lang hatten zehn Frauen und Männer der Notwohnsiedlung Brothuuse am Tisch in der Stube gesessen, gegessen und mit der Seelsorgerin über die Symbolik von Halloween diskutiert. Dann verzogen sie sich alle wieder in ihre Zimmer.  

In der Unterkunft der Stiftung Sozialwerk Pfarrer Sieber in Zürich-Affoltern leben Menschen, die fast alles verloren haben: Beziehungen, die Wohnung, den Job und die Fähigkeit, ihr Leben zu strukturieren. Viele leiden an Suchtkrankheiten. Pünktlich zur Halloween-Feier zu erscheinen und sich in die Gemeinschaft zu begeben, ist für sie keine Selbstverständlichkeit. 

«Das war für sie eine grosse Leistung!», sagt Dobler eine Woche später. Auf dem Tisch zeugen noch Schokoküsse mit Smarties-Fratzen von Halloween. Eine Bewohnerin hatte sich das Fest gewünscht. Mit ihr gestaltete Dobler Flyer und die Deko in der Stube. Ob Gäste kommen würden, war bis zuletzt unsicher. «Ich freue mich über jeden stabilen Moment, den wir teilen», sagt die 45-Jährige. «Ich habe nicht den Anspruch, ihr Leben zu ändern.»

Ich freue mich über jeden sta­bilen Moment, den wir teilen.

Weckruf im Posteinang

Vor einer Stunde hat sie ihren Mini Cooper vor der Siedlung parkiert und danach ein Seelsorgegespräch mit einer Frau geführt, die erst seit Kurzem hier wohnt. Jeden Donnerstagnachmittag klopft sie an die Zimmertüren aller Bewohner und fragt, ob sie ein Gespräch wünschen. Am Abend braust sie dann jeweils zur Notschlafstelle für Jugendliche auf der anderen Seite der Stadt und bespricht auch mit ihnen deren Sorgen.  

Im Oktober 2020 reduzierte Corinne Dobler ihr Pensum als Pfarrerin in der Kirchgemeinde Bremgarten-Mutschellen, weil sie fortan auch für das Sieberwerk tätig sein wollte. «Zu Menschen am Rand der Gesellschaft zu gehen, erschien mir immer wichtiger», erzählt sie. Im Lockdown schaute sie ein Jobinserat in ihrem Mail-Eingang an, etwas, was sie normalerweise sofort löscht. «Es war wie ein Ruf.» 

Das Leben ausserhalb der Komfortzone interessierte die Mutter zweier Teenager immer schon mehr. Als Tochter eines Kochs und einer Servicemitarbeiterin war sie es früh gewohnt, viel im Haushalt mitzuhelfen und einzukaufen. Als Gymnasiastin jobbte sie als Küchenhilfe im Spital und füllte Regale bei Coop auf. Danach absolvierte sie die Rekrutenschule, in  der ersten Generation Frauen, die ein Sturmgewehr haben durften.

Militär und Drogentests

Dem Militär gehörte sie länger an als geplant, denn die Karriere zum Hauptmann erwies sich als vorteilhaft für die Finanzierung ihres Theologiestudiums. Da dies aber nicht reichte, war sie beim Blauen Kreuz mit der alkoholfreien Bar unterwegs und testete im Auftrag der psychiatrischen Klinik Burghölzli das Zusammenspiel von Ecstasy und blutdrucksenkenden Mitteln. Sie spielte Gitarre und Trompete, kaufte sich ein Motorrad und lernte Gleitschirmfliegen. «Ich probiere gern Dinge aus, die mich herausfordern und bei denen ich in verschiedene Gefühlswelten tauche», sagt sie. Und sie hat noch einen Antrieb: «Ich bin klein und werde immer wieder unterschätzt. Ich wollte es allen zeigen.»  

Der Drang nach Grenzerfahrungen hat nachgelassen, «das Leben flasht genug», doch die Lust auf Abwechslung ist geblieben. Darum sagte sie sofort zu, als «reformiert.» sie einlud, in der Rubrik «Lebensfragen» künftig auf Anliegen der Leserschaft einzugehen. Die Pfarrerin, Seelsorgerin und Mutter hat immer Platz für noch etwas. 

Als sie nach der RS überlegte, was sie werden soll, wusste sie einzig: «Ich wollte mit etwas arbeiten, was ewig bleibt. Biblisch gesagt ist das: die Liebe.

Wir sagen Anne-Marie Müller Adieu

Neun Jahre lang beantwortete die Zürcher Pfarrerin Anne-Marie Müller in der Rubrik «Lebensfragen» seelsor-gerliche Fragen. Es ging um Ängste und Krisen, Erziehung und Beziehungen, Sinn- und Glaubensfragen, Verlust und Trauer. Einfühlsam und sorgfältig, mit weitem Horizont, ohne einfache Rezepte, aber immer auf der Suche nach dem, was Kraft geben kann, ging sie auf die Fragen ein. Im letzten Jahr ist sie an Multipler Sklerose erkrankt und konzentriert sich nun auf ihre pfarramtlichen Aufgaben im Kirchenkreis zehn. Die Redaktion von «reformiert.» dankt ihr für ihre langjährige, wertvolle Arbeit und wünscht ihr Kraft und Liebe.