Die Schönheit liegt für Bernd Nicolaisen im Detail. «Schauen Sie sich diese Hausfassade an», sagt der hochgewachsene Mann mit gemütlichem Bernerdialekt und grau meliertem Haar bei einem Kaffee in der Zürcher Altstadt. Die grosse Fläche sei schnell einmal langweilig für das Auge. Aber: «Wenn Sie genau hinschauen, entdecken Sie in dieser Ritze hier plötzlich diesen kleinen Stein – das ist doch viel spannender.»
Gletscher als Atelier. Eigentlich ist Bernd Nicolaisen Coiffeur. Seit dreissig Jahren arbeitet er zudem auch als Modefotograf. Doch die oberflächliche, glamouröse Modewelt will irgendwie nicht recht zum 56-Jährigen passen. Dafür nimmt man ihm den Künstler sofort ab. «Ich suchte einen Ausgleich zum schnellen Rhythmus», erklärt er. So kam er vor zehn Jahren vom Hochglanzmagazin zur Naturfotografie. Und fand dabei eine neue Leidenschaft: das Eis.
Bilder von Eiskletterern haben damals den Wunsch in ihm geweckt, nach Island zu reisen. Mit einem Bergführer vor Ort, der inzwischen zu einem guten Freund geworden ist, fand er Zugang selbst zu den abgelegensten Stellen der Jahrtausende alten Gletscher auf der Vulkaninsel. Während seiner zahlreichen Reisen experimentierte Nicolaisen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt oft stundenlang mit seiner Kamera. Zwischen 2004 und 2015 machte er unzählige Aufnahmen von Gletscheroberflächen und Eisstrukturen. Er schwärmt: «Das Eis ist auf Island so klar, dass man hindurchsehen kann.» Und er erklärt: «Darin enthaltene Lavapartikel geben ihm eine dritte Dimension. Sie machen die Farbnuancen zwischen Eisblau und Grau sichtbar.» Er fühlte sich «wie ein Maler, der plötzlich sieben statt nur drei Farben zur Verfügung hat».
Nicolaisen redet und denkt in Bildern. Seine ruhige Art wirkt ansteckend, und fast vergisst man im Gespräch die Zeit. «Die Grossformatfotografie zwingt einen zur Langsamkeit», sagt er. Denn im Gletscher gebe es viele «Fallstricke» wie etwa falsche Belichtungszeiten – Geduld mit der Technik sei da unabdingbar.
Seine Bilder zeigen stets Ausschnitte. Details eben, die genau dadurch faszinieren, dass sie nur Teil eines Ganzen sind. Nicolaisen liebt es, «einfach produktiv zu sein». Neben dem Macher ist er aber auch ein spiritueller Mensch mit einer philosophischen Sicht auf den künstlerischen Prozess. «Wenn man Licht darstellen möchte, braucht es stets auch dunkle Partien.» Im Gletscher sind diese dunklen Partien dominant. «Man braucht fünf bis zehn Minuten, bis sich die Augen ans Restlicht gewöhnen.» Genau dieses Restlicht, das seiner aktuellen Ausstellung im Zürcher Grossmünster den Namen gab, ist es, das ihn so fasziniert. Ein kurzes Zeitfenster, das er die «Schönheit der Vergänglichkeit» nennt.
Kunst, die berührt. Sein «gereiftes» Werk präsentiert er nun zum ersten Mal der Öffentlichkeit. Alles braucht seine Zeit. Der Berner sagt: «Ein Apfel ist im Herbst reif und nicht im Sommer.» Mit seiner Kunst will der Vater von zwei erwachsenen Töchtern die Menschen berühren: «Das fünfjährige Mädchen und den neunzigjährigen Urgrossvater.» In der Krypta hat er hierfür die richtige Kulisse gefunden.