Politik 31. Juli 2025, von Klaus Petrus

«Wer nichts tut, wird zum Komplizen des Schreckens»

Gastbeitrag

Vor 30 Jahren fand in Srebrenica ein Massaker statt, das heute als Genozid gilt. Bei Kriegsverbrechen steht die Menschlichkeit auf dem Spiel – beim tatenlosen Zuschauen ebenso.

Vor 30 Jahren – vom 11. bis zum 19. Juli 1995 – massakrierten bosnisch-serbische Einheiten unter der Führung von General Ratko Mladic in der Nähe der Stadt Srebrenica im Osten von Bosnien und Herzegowina über 8000 Bosniaken, alles männliche muslimische Bosnier zwischen 17 und 78, auch ein Säugling war dabei.

Die Vereinten Nationen hatten das Gebiet im Zuge der Jugoslawienkriege, die 1991 begannen, zur Schutzzone erklärt, woraufhin 40 000 Bosniakinnen und Bosniaken in Srebrenica Zuflucht suchten. Als die bosnisch-serbischen Truppen aufmarschierten, sahen die 350 dort stationierten UN-Soldaten tatenlos zu.

Klaus Petrus, 57

Er studierte in Bern Philosophie, nach Promotion und Habilitierung folgte eine Lehrtätigkeit in der Schweiz, zuletzt als Professor in Bern. Heute arbeitet er als Journalist, Fotoreporter und Buchautor. Sein neuestes Werk ist der Bildband «Spuren der Flucht», ein Blick auf die Balkanroute.

Viele der Verfolgten versuchten, von Srebrenica aus in bosnisch-muslimische Gebiete zu gelangen, andere flohen in die benachbarte Kleinstadt Potocari, darunter 25'000 Frauen, Kinder und ältere Menschen. Bereits am Abend des 11. Juli war von Massenvergewaltigungen muslimischer Frauen und Mädchen durch bosnisch-serbische Soldaten die Rede, in den Tagen darauf wurden die männlichen Bosniaken von den übrigen getrennt, in Fabrikhallen oder Schulgebäude gesperrt und später in Lastwagen an entlegene Orte gekarrt, wo bosnisch-serbische Soldaten sie fesselten  und exekutierten.

Es sollte bis 2007 dauern, bis der Internationale Gerichtshof (IGH) das Massaker von Srebrenica als Völkermord einstufte, und noch weitere zehn Jahre, bis Ratko Mladic als Hauptverantwortlicher zu einer lebenslangen Haft verurteilt wurde.

Heftigste Reaktionen

Trotzdem wird der Genozid von Srebrenica weiterhin relativiert oder gar geleugnet. So räumt der serbische Präsident Aleksandar Vucic zwar ein, dass es sich dabei um ein «monströses Verbrechen» gehandelt habe, von Genozid aber will er nicht reden. Ihn zuzugeben, hiesse einzugestehen, am «Verbrechen aller Verbrechen» beteiligt gewesen zu sein. Im Kontext von Kriegshandlungen ruft der Vorwurf des Genozids jeweils heftige politische und emotionale Reaktionen hervor.

Problematisch ist, dass die moralisch aufgeladene Diskussion über den Genozid als «Goldstandard des Bösen» dazu führen kann, von offenkundigen Kriegsverbrechen abzulenken.
Klaus Petrus, Journalist und Philosoph

Jüngstes Beispiel ist der Krieg in Gaza. So hat Südafrika Ende Dezember 2023 beim IGH eine Klage gegen Israel wegen Verdachts auf Geno-zid an den palästinensischen Menschen im Gazastreifen eingereicht. Inzwischen erheben diesen Vorwurf auch jüdische Historiker wie Amos Goldberg, Raz Segal oder Omer Bartov. Sie nehmen Bezug auf die Zahl der Opfer – laut UN wurden seit dem Massaker der Hamas an 1200 Israeli und ausländischen Personen allein im Gazastreifen 52'000 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet, 70 Prozent sind Frauen und Kinder –, die wiederholte und gezielte Bombardierung von Spitälern, Schulen und Moscheen, das Lahmlegen der Strom- und Wasserversorgung oder das Aushungern der Zivilbevölkerung wie zuletzt zwischen dem 2. März 2025 und dem 20. Mai 2025, als die israelischen Behörden sämtliche  Hilfslieferungen mit Nahrung in den Gazastreifen blockierten.

Haftbefehl aus Den Haag

Damit etwas als Völkermord gilt, reicht es aber nicht aus, Kriegsverbrechen dieser Art zu bezeugen. Entscheidend ist die Absicht hinter den Taten. Es muss bewiesen werden, dass Kriegsverbrechen willentlich ausgeführt wurden oder werden, um «eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören», wie es in der UN-Völkermordkonvention von 1948 heisst.

Der IGH wie auch Fachleute berufen sich auf politisch sowie militärisch Verantwortliche, welche die Auslöschung der palästinensischen Bevölkerung zumindest im Gazastreifen unverhohlen befürworten, was sie als Genozidabsicht deuten. Darunter sind Staatspräsident Jitzchak Herzog, von dem die Losung «Wir werden kämpfen, bis wir ihnen allen das Rückgrat brechen» stammt, Verteidigungsminister Israel Katz, der diesen März die «völlige Zerstörung» des Gazastreifens in Aussicht stellte, oder Joaw Galant, der die Palästinenser wiederholt als «Tiere» bezeichnet hat. Gegen ihn hat der Internationale Strafgerichtshof im November 2024 – wie auch gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Hamas-Führer – einen Haftbefehl erlassen.

Wenn das Mitgefühl stirbt

Problematisch ist, dass die moralisch aufgeladene Diskussion über den Genozid als «Goldstandard des Bösen» dazu führen kann, von offenkundigen Kriegsverbrechen abzulenken. Die Frage, ob es sich dabei um Völkermord handelt, muss natürlich beantwortet werden. Genauso wichtig ist aber die Pflicht aller Staaten, die hinter dem Völkerrecht stehen, derlei Kriegsverbrechen vorzubeugen und zu verhindern. Andernfalls drohen sie zu Komplizen des Schreckens zu werden. Und nehmen hin, dass Verbrechen von solchem Ausmass darauf abzielen, die Opfer auf systematische Weise zu entmenschlichen – was im Fall von Völkermorden fast ausschliesslich Zivilpersonen sind.

Es gehört zu den Binsenwahrheiten aller Kriege: Das Grauen ist nur dann möglich, wenn jedes Mitgefühl erstirbt, wenn es nicht mehr darauf ankommt, ob es sich beim Gegenüber um einen Menschen handelt, verwundbar wie Sie und ich. Bei Kriegsverbrechen steht am Ende immer die Menschlichkeit auf dem Spiel; beim tatenlosen Zuschauen und Hinnehmen dieser Verbrechen ebenso.