Lesen befreit aus dem Käfig der Ideologie

Literatur

Schriftstellerin Dana Grigorcea braucht den Glauben, um Kunst zu schaffen. Ein Gespräch über die Anmassung des Schreibens, die Freiheit des Lesens und das Werk von Thomas Mann. 

Ein bisschen schwebt Dana Grigorcea durch diesen Sommermorgen. Die Leichtigkeit rührt daher, dass der letzte Satz geschrieben ist. Am Tag zuvor hat sie ihren neuen Roman beendet. Dass der letzte Satz der letzte Satz ist, spürt sie sofort, obwohl sie ihn zuvor nicht im Kopf hat. «Alles fügt sich dann auf wundersame Weise zu diesem Satz.» 

Der Nebel lichtet sich

Grigorcea sitzt in einem Strassencafé in der Zürcher Altstadt. Eigentlich sollte es beim Treffen um Thomas Mann gehen, der vor 150 Jahren geboren wurde. Aber in einem Gespräch mit Dana Grigorcea geht es immer schnell um alles: die Sommerferien und Lieblingsorte in der Stadt, die Freiheit der Kunst und die Diktatur der Nützlichkeit, den Schöpfungsakt des Schreibens, die Notwendigkeit des Glaubens.

Grigorcea ist Vorstandsmitglied der Thomas Mann Gesellschaft Zürich. Erstmals las sie ihn in ihrer Jugend in Rumänien: «Mario und der Zauberer». Sie fühlte sich sogleich angesprochen. «Alles war neblig um mich herum, doch beim Lesen lichtete sich meine Wahrnehmung.» 

Das Spektakel des Willenbrechens

Mit leichter Hand verwebt Thomas Mann eine Skizze der italienischen Tourismusbranche mit der Kritik an der devoten Höflichkeit, die über Ungerechtigkeiten hinweggeht und sich in den Dienst der Macht stellt. Zuletzt lenkt er den Blick vor der Kulisse einer zirkushaften Hypnoseshow auf die Abgründe der Manipulation. Oder in den Worten von Dana Grigorcea: «Es geht es um das Spektakel des Willenbrechens und die Auflehnung dagegen.»

Politische Hellsichtigkeit

Thomas Mann zählt zu den bedeutendsten Erzählern des 20. Jahrhunderts. Am 6. Juni 1875 wurde er in Lübeck geboren. 1929 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.   In seiner politischen Hellsichtigkeit bezeichnete Mann den aufkommenden Nationalsozialismus als «eine Riesenwelle exzentrischer Barbarei und primitiv-massendemokratischer Jahrmarktsrohheit». Stets erkannte er das Böse als das Unästhetische. Nach langem Ringen entschied sich Mann, ins Exil zu gehen. Im Jahr der Machtergreifung durch die Nazis zog er nach Küsnacht am Zürichsee. 1936 wurde ein Ausbürgerungsverfahren gegen ihn eingeleitet, worauf er die deutsche Staatsbürgerschaft verlor.

1938 zog Thomas Mann in die USA. In Radioansprachen wandte er sich an die «deutschen Hörer» und warnte eindringlich vor Adolf Hitler und der nationalsozialistischen Ideologie.

Nach der Befreiung Deutschlands von den Nationalsozialisten litt Thomas Mann im Klima des Kalten Kriegs zunehmend unter der Polarisierung in der amerikanischen Innenpolitik und geriet unter Kommunismusverdacht. 1952 kehrte er in die Schweiz zurück und wohnte mit seiner Familie zuerst in Erlenbach, bevor er 1954 das Seeufer wechselte und nach Kilchberg zog. Während Europa in Trümmern lag und sich die deutsche Literatur den Abgründen des Faschismus stellte, schrieb Mann seinen wunderbar leichtfüssigen Antibildungsroman über den Hochstapler Felix Krull. 

Am 12. August 1955 starb Thomas Mann im Spital in Zürich.

Das Lesen beschreibt die Schriftstellerin als «Befreiung aus dem Käfig der Ideologie». Um an die Bücher zu gelangen, musste sie sich als Jugendliche gut stellen mit der Bibliothekarin. Sie brachte ihr Blumen, machte kleine Geschenke. Auf dem Schulweg erzählte sie dann ihren Freundinnen, was sie gelesen hatte, hörte von ihnen die Geschichten, die sie später selbst lesen wollte.

Das Erbe der Diktatur

Obwohl sie in einem regimekritischen Haushalt aufwuchs und erst ein zehnjähriges Kind war, als im Dezember 1989 Nicolae Ceausescu gestürzt wurde, habe die rumänische Diktatur sie geprägt, sagt sie. «Angst und Kontrolle verdrängten die Leute aus dem öffentlichen Raum.»  

Grigorcea blickt um sich. Studentinnen und Studenten, die in der nahen Zentralbibliothek lernen, sitzen plaudernd auf den Stufen vor der Predigerkirche. Touristen und Touristinnen flanieren. Die Oligarchie, die auf den Zusammenbruch des sozialistischen Systems in Rumänien folgte, könne als ein Ausdruck der Hilflosigkeit interpretiert werden, den öffentlichen Raum zurückzugewinnen, meint Grigorcea jetzt. «Sie haben ihn sich einfach gekauft.»

Die Landnahme der Autorin

In ihrer Kunst befreit sich Dana Grigorcea immer wieder neu vom Erbe der Diktatur in sich selbst. «Mein Schreiben ist Landnahme.»  

Vor dem Hintergrund der eigenen Biografie reagiert sie sensibel auf Trends, die der Kunstfreiheit zuwiderlaufen. Sie warnt vor dem Versuch, die Literatur mit Fördergeldern zu verzwecken, wenn die politische Ausrichtung und der unmittelbare gesellschaftliche Nutzen zu Bewertungskriterien für Kunst werden. «Auch der Kommunismus wollte sich die Kunst zunutze machen und das Volk erziehen», sagt die Autorin.

Die Epiphanie des Worts

Literatur ist für Grigorcea ein Angebot zum Perspektivwechsel und zur Selbstbespiegelung. «Sie zeigt die Vielfalt der Welt, sie macht uns sensibler und weiser.» Das stelle sich ein, wenn sie Mann lese. Insbesondere in seinen Erzählungen brauche er nur ein paar Sätze, um Atmosphäre zu schaffen, in seinen Worten scheine eine Welt auf. «Diesen Zustand strebe ich an», sagt sie.

In ihren eigenen Büchern erlangt Grigorcea ihn. So verwebt sie in ihrem brillanten Roman «Die nicht sterben» die Sehnsucht nach einer starken Hand in der Politik mit der Abstiegsangst einer Kleinstadt an der Grenze zu Transsilvanien. Mit sprachlicher Präzision verdichtet sie ihre Erzählung zu einer Welt, in der die Leserin das Fliegen lernt. 

Epiphanie beim Schreiben

Freilich sei der Schöpfungsakt, die Behauptung, dass Bedeutung habe, was sie schreibe, immer eine Anmassung. Deshalb könne sie ohne den Glauben an Gott nicht schreiben, sagt Grigorcea. «Er gibt mir die Zuversicht, dass sich alles fügt.»   

Die Momente, in denen die Fähigkeit, die richtigen Worte für die individuelle Wahrnehmung zu finden, und die Überheblichkeit, dem Resultat Relevanz zu unterstellen, zusammenfallen, bezeichnet Grigorcea als Epiphanie, als heiligen Augenblick der Erscheinung. Es sind Momente des geteilten Glücks: Wer ihre Bücher liest, erlebt sie auch.

Nicht alles wird zum Stoff

Anders als Thomas Mann hat sich Dana Grigorcea Grenzen gesetzt im Leben, aus dem sie schöpft. Bei ihm wurde alles zum Stoff für sein Werk. Auch die eigene Familie, die ihm eine Insel war, auf der er kreative Kraft schöpfte. So verarbeitete er den Sui­zid der Schwester ebenso zu Literatur, wie er in «Doktor Faustus» seinen Lieblingsenkel Frido als Nepomuk qualvoll sterben liess.

«Thomas Mann hat niemanden geschont, sogar die eigenen Kinder waren ihm Material.» Grigorcea würde nie über ihre Familie schreiben. «Ich hätte das Gefühl, sie zu instrumentalisieren.» Auch gemeinsame Reisen verfremdet sie so, dass sogar das engste Umfeld das Erlebnis nicht wiedererkennt. «Niemand soll mit der Angst leben, sich selbst zu finden in meinen Büchern.» 

Begeisterung beflügelt

Vielleicht gelingt ihr gerade durch solche Verschiebungen, dass sich dafür die Leserinnen und Leser in ihren Texten wiederfinden und jene Freiheit des Lesens erfahren, aus der auch die Autorin selbst ihre Kreativität schöpft.  

Ihre Begeisterung für die Kunst und die Freiheit, die Dankbarkeit für das Privileg, den öffentlichen Raum beanspruchen zu dürfen, wirken ansteckend und beflügeln.