Als ich vor einem Jahr von Domodossola durch das Vigezzotal und das Centovalli Richtung Locarno fuhr, zeigte sich kurz nach der Haltestelle Re durch das Zugfenster eine Kirche wie in einem Märchen. Gross, ja riesig, mit einer Zentralkuppel fast wie die Hagia Sophia in Istanbul, dazu mit Annexbauten und kleineren Nebenkuppeln: So ragte dieses byzantinische Traumbild in der Abgeschiedenheit der piemontesischen Alpen auf. Hatte ich richtig gesehen? Eine solche architektonische Pracht in einem kleinen Bergdorf?
Ich hatte keine Chance mehr, meine Sichtung zu verifizieren, der mächtige Dom war hinter den Felsen bereits auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Ein Blick auf das Handy belehrte mich: Ja, ich hatte richtig gesehen. In Re steht das Sanktuarium zur blutenden Madonna, eine Wallfahrtskirche von bedeutendem Rang, gemäss dem Webportal visitossola.it einer der «wichtigsten Sakralbauten der Region Piemont».
Links das Dorf, rechts die Bahn
Diesen Bau wollte ich unbedingt sehen. Nicht nur fünf Sekunden vom Zug aus, sondern richtig. Ein Jahr später, in der ersten Julihälfte 2025, ist es so weit: Stehend eingepfercht zwischen Mitreisenden und ihren Bergen von Gepäck, fahre ich im Zug von Brig durch den Simplontunnel nach Domodossola. Von dort geht es in der ebenfalls gut besetzten, aber immerhin noch ein paar freie Sitzplätze aufweisenden Regionalbahn durch das Vigezzotal, das erst ab der Schweizer Grenze den bekannteren Namen Centovalli trägt.
Aufmerksam blicke ich andauernd nach links, um nur ja nicht meinen Ausstiegsort zu verpassen. Links liegt nämlich die Basilika und damit das Dorf, das weiss ich noch vom letzten Mal. Was ich nicht mehr weiss: Die Bahnstation mit der Ortsanschrift befindet sich rechts. Fast verpasse ich sie deshalb. In letzter Sekunde gelingt es mir, aus dem haltenden Zug zu hasten, bevor er seine gemächliche Schleichfahrt durch das dicht bewaldete Alpental wieder aufnimmt.
Aber wo ist die Kirche? Bin ich überhaupt richtig ausgestiegen? Auf einem Fussweg erklimme ich die Höhe des italienischen Dorfes und gehe entlang der Hauptstrasse vielleicht 50 Meter in nordöstlicher Richtung. Und da, nach einer Kurve, zeigt sich ganz plötzlich das bauliche Wunder, als wäre es frisch wie eine Pilzkolonie aus dem Boden geschossen: das Sanktuarium in seiner ganzen pittoresken Kuppelpracht, fast wie eine Vorahnung des Neuen Jerusalem. Erneut kann ich es kaum glauben, dass in einem bescheidenen Bergdorf ein derart majestätischer Bau steht.
Innert weniger Minuten habe ich die Kirche erreicht. Sie besteht aus zwei Trakten: der ursprünglichen, 1628 vollendeten und eher unscheinbaren Wallfahrtskirche und dem fantastischen Kuppelbau, der noch nicht einmal 70-jährig ist. Gerade findet im Altbau eine Messe statt, kurz vor Mittag an einem gewöhnlichen Montag. Einem an der Tür angehefteten Zettel ist zu entnehmen, dass hier nach festgelegtem Zeitplan an jedem Wochentag mehrere Messen gelesen werden. Nicht von ungefähr: Immerhin handelt es sich bei diesem Sanktuarium um eine sogenannte Basilika minor, also ein hochrangiges katholisches Gotteshaus.
Ein schlechter Verlierer
Eine grosse, mehrsprachige Tafel beantwortet die Frage, wie ein Dorf mit 700 Einwohnern in den Südalpen abseits der grossen Touristenströme zu einer solchen sakralen Anlage kam. Die Geschichte begann am 29. April 1494, als einige junge Männer auf dem Dorfplatz ein traditionelles Spiel spielten. Es galt, mit einem Stein eine Münze auf einem Holzzylinder zu treffen. Einer der Burschen, der besonders glücklos war, schleuderte im Zorn den Stein weit von sich – und traf unbeabsichtigt das Marienfresko an der damaligen Kirche. Sogar der Name des Steinschleuderers ist überliefert: Er hiess Giovanni Zuccone und wurde, als er sah, dass er Maria an der Stirn getroffen hatte, von Reue erfasst.