«Sein Werk ist hochaktuell»

Theologie

Die Bonhoeffer-Expertin Nadine Hamilton über die weltweite Faszination für den Pfarrer und Widerstandskämpfer und wieder-kehrende Versuche, ihn zu instrumentalisieren. 

Es gibt weltweit Bonhoeffer-Gesellschaften und -Kongresse. Der Theologe scheint präsenter als viele seiner Kollegen. Warum?  

Nadine Hamilton: Bonhoeffer ist herausragend zitierfähig, er bringt Gedanken in einem Satz poetisch auf den Punkt. Besonders an ihm ist zudem, dass er als akademischer Theologe eine grosse Karriere vor sich hatte, sich dann aber für die Kirche entschied und Pfarrer ausbildete. So wurde sein Werk nicht nur im akademischen Raum, sondern auch in einem kirchlichen Kontext breit rezipiert. Schlussendlich spielt natürlich sein Tod eine Rolle: Er starb für seine Überzeugungen. Von seinem Lebensweg bleibt deshalb kaum jemand unberührt.  

Immer wieder wird Bonhoeffer von unterschiedlichen politischen Kreisen beansprucht. Wie kommt das?

Ein Grund liegt darin, dass das Werk teils fragmentarisch ist – insbesondere in der unvollendeten Ethik und den offen gehaltenen Gefängnisbriefen. Diese Texte bieten viel Raum für Interpretation. In der DDR etwa wurde Bonhoeffer durch den systemnahen Theologen Hanfried Müller ideologisch instrumentalisiert. Müller deutete die theologische Entwicklung Bonhoeffers als Weg hin zu einer universalistischen und atheistischen Ethik. Dabei erklärte er späte Gedanken aus den Gefängnisbriefen zur Vollendung von Bonhoeffers Theologie, verstand frühere Positionen nur als Vorstufen. Das Übergewicht später Fragmente gegenüber den früheren, ausgearbeiteten Texten öffnete der ideologischen Vereinnahmung Tür und Tor. Solche Muster gibt es bis heute, zum Beispiel in politischen Debatten in den USA.

Sie sprechen den US-Spielfilm an, der jüngst in die Kinos kam und gegen den sich Nachkommen des Theologen sowie Forscher wehren?

Auch, doch es geht darüber hinaus. Im letzten Wahlkampf wurde Bonhoeffer von Donald Trumps Anhängern vereinnahmt. Sie stellten ihn als Verteidiger traditioneller, christlicher Werte, als Kämpfer gegen ein liberales, demokratisches Weltbild dar. Während der ersten Kampagne Trumps war es andersherum. Bonhoeffer wurde gegen Trump ins Feld geführt, als Verfechter der Demokratie. Doch Bonhoeffer hoffte nach den negativen Erfahrungen mit der Weimarer Republik nicht auf eine Demokratie oder verteidigte die heutigen liberalen Werte. Seine Handlung muss stets im Kontext der damaligen Zeit beurteilt werden. Wer das ausblendet, macht ihn zur Projektionsfläche, zu einer Pappfigur, die je nach Bedarf verwendet wird. 

Nadine Hamilton

Nadine Hamilton

Die evangelische Theologin ist zweite Vorsitzende der deutschsprachigen Sektion der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft. Sie lehrt an der Friedrich-Alexander-Universität im fränkischen Erlangen. Das Werk Bonhoeffers bildet einen ihrer Forschungsschwerpunkte. 

Wie wichtig sind die Umstände, unter denen die Schriften entstanden?

Sehr wichtig. Insbesondere in den Gefängnisbriefen blieb Bonhoeffer nicht viel Zeit, um Gedanken zu entwickeln – das religionslose Christentum etwa. Viele Gedanken sind anfängliche Überlegungen, die nicht für sich allein stehen dürfen und in Verbindung zum gesamten Werk gesehen werden sollten. Sie waren nie zur Veröffentlichung bestimmt. 

Was bedeutet das für die Theologie Dietrich Bonhoeffers?

Im Werk sieht man Entwicklungen. Zuerst haben wir hier akademische Schriften, intellektuell und religionsphilosophisch. Später Predigten, Schriften über das Leben im Seminar, eine ganz andere Gattung. Dann die Ethik, die ein Fragment blieb. Trotzdem gibt es Stränge, die sich durch die Gattungen ziehen.  Zum Beispiel? Seine konsequente Orientierung an Christus. In seiner Vorlesung über die Christologie fragt er: «Wer ist Christus?». Später, in seiner Ethik: «Wer ist Christus für uns heute?» Er nennt das Christuswirklichkeit.

Bedeutet Christuswirklichkeit, sich in den Handlungen im Alltag stets an Christus zu orientieren?

Ja, aber das greift zu kurz. Bonhoeffer meint damit auch, dass Christus selbst die Wirklichkeit ist, in der wir leben, entscheiden, handeln. Christus ist gegenwärtige Mitte der Welt, in ihm sind Gott und Welt, Schöpfung und Erlösung, Person und Geschichte miteinander versöhnt. Wer an Christus glaubt, der lebt in dieser Wirklichkeit: Jede Begegnung, jede Verantwortung, jedes ethische Dilemma steht im Licht dieser Gegenwart. Daher fragt Dietrich Bonhoeffer nicht: Was würde Christus tun? Sondern: Wer ist Christus für uns in dieser konkreten Situation? Daraus ergibt sich die Frage an uns: Wer bin ich in dieser Christuswirklichkeit und welche Konsequenzen hat das für mein Tun?

Was können wir heute von Bonhoeffer lernen?

Brücken zu bauen. Bonhoeffer war durch und durch Ökumeniker und dachte über die Institution hinaus. Auch gab es für ihn keine unpolitische Kirche. Damit meine ich nicht Parteipolitik, sondern existenzielle Verantwortung für die Welt. Das Bild von der Kirche, die dem Rad in die Speichen fällt, illustriert das gut. Die Kirche tut gut daran, sich Gedanken zu machen: Wo stehen wir und was ist unsere Aufgabe?   Die geopolitische Lage ist fragil, Historiker vergleichen sie mit den 1930er-Jahren. 

Wie liesse sich Bonhoeffers Friedensethik auf die heutige Zeit anwenden?

Bonhoeffer war ein strikter Pazifist, aber kein Gesinnungsethiker, es ging ihm nicht ums Prinzip. In den Gefängnisbriefen ringt er damit, dass er die Wahrheit nicht sagte und an einem Attentat beteiligt war. Friede war für ihn nicht nur Gewaltfreiheit, sondern aktive Herstellung gerechter Verhältnisse, ein tätiger Friede, der Einsatz, Mut und Widerspruch verlangt. Das ist hochaktuell.