Meinung 28. September 2024, von Barbara Zanetti

Wo Stille herrscht, gewinnt das Leben an Lebendigkeit

Achtsamkeit

Stille ist kostbar. Gerade in einer Welt, die von Lärm durchdrungen ist. Dieser ist nicht nur störend, er macht krank. Die Stille aber bettet uns in den Urgrund des Seins ein.

Ein Bauer erzählt von seinem Aufenthalt auf der Alp, wo es weder Autozufahrt noch Strom gibt. Er zieht bedächtig an seinem Stumpen und meint, auf der Alp könne man den Frieden finden. Das, was Menschen im Yoga suchen – die innere Ruhe, das Ankommen bei sich selbst –, wird einem hier in den Bergen geschenkt. Durch das Eingebettetsein in der Natur und das Mitgehen mit den natürlichen Rhythmen werde es auch in seinem Herzen still, meint der Bauer. Er müsse nicht so viel denken und planen wie unten im Tal, wo ein äusseres Programm den Tagesablauf bestimme und er den eigenen, inneren Rhythmus verliere.

Alarm, Alarm!

Diese Erfahrung machen wohl viele Menschen ganz ähnlich. Die Natur lädt zum Sein ein, sie verlangt nichts von uns, so können wir uns regenerieren, bei uns selbst ankommen und auftanken. Das hat sehr viel mit der Ruhe und der Stille in der Natur zu tun.

Wie lassen sich eigentlich Lärm und Stille unterscheiden? Hierzu gilt es, den Blick auf eine äussere und eine innere Ebene von Stille und Lärm zu richten. Wenden wir uns zuerst der äusseren Ebene zu.

Interessant ist bereits der Ursprung des Wortes «Lärm»: Es stammt vom italienischen Ruf «all’arme» ab, «zu den Waffen», und ist somit verwandt mit «Alarm». Bis ins 18. Jahrhundert hinein war Lärm ein Begriff aus dem militärischen Bereich. Heute werden mit «Lärm» Geräusche bezeichnet, die unangenehm, belastend oder gesundheitsschädigend wirken.

Zunächst hängt die Wahrnehmung von Geräuschen als Lärm von physikalischen Grössen ab: vom Schalldruckpegel, von der Tonhöhe und weiteren Parametern. Aber auch subjektive Faktoren spielen eine Rolle. Wer zum Beispiel eine Aufgabe zu erledigen hat, die hohe Konzentration erfordert, nimmt Geräusche eher als Lärmbelastung wahr.

Die Stille führt in unbekannte Tiefen, kennt kei­ne Grenzen, ihr bleibt nichts verborgen.
Barbara Zanetti, Theologin und Therapeutin

Auch persönliche Vorlieben spielen eine Rolle, weiter soziale und kulturelle Aspekte: Von Kirchenglocken etwa fühlen sich weniger Menschen gestört als von einem laufender Motor vor dem Haus. Ebenso massgebend sind persönliche Eigenschaften und Befindlichkeiten: Introvertiertheit, Hochsensibilität oder Krankheit.

Die gesundheitlichen Schäden von Lärm werden sowohl im allgemeinen Bewusstsein sowie in der Politik massiv unterschätzt. Die WHO ermittelte 2011 in einer Studie, dass Lärm als zweitgrösster Umweltfaktor – nach der Luftverschmutzung – die Krankheitslast vergrössert. Sogar wenn Lärm nicht bewusst wahrgenommen wird, können sich Körper und Seele nicht daran gewöhnen, und sie beginnen, Stresssymptome zu entwickeln.

Angriff auf Herz und Hirn

Die Folgen können zu hoher Blutdruck sein, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magengeschwüre, Depressionen, Angsterkrankungen, Schlafprobleme und anderes mehr. Ein gewisser Prozentsatz an Demenzerkrankungen wird ebenfalls darauf zurückgeführt.

Barbara Zanetti, 61

Barbara Zanetti, 61

Nach dem Theologiestudium in Bern und Aix-en-Provence arbeitete sie als reformierte Pfarrerin. Daneben absolvierte sie ein Psychotherapiestudium und Ausbildungen in Integraler Spiritualität und Spiritueller Traumarbeit. Heute begleitet sie freischaffend Menschen psychologisch und spirituell und ist journalistisch tätig.

www.heimkehrenzurquelle.ch

Studien haben gezeigt, dass alle Töne eine nachweisbare Wirkung auf unsere Lebensenergie haben. Alle stressfreien, natürlichen Klänge stärken die Lebensenergie. Dazu gehören Laute von Tieren, der Klang von Musikinstrumenten und die Töne des Körpers: Atemgeräusche und Herztöne.

Hören über die Haut

Am Institute for the Enhancement of Life Energy and Creativity in den USA wurde entdeckt, dass Töne auf zwei völlig getrennten Systemen auf uns einwirken. Das eine ist das Ohr, das andere das Akupunktursystem. Es gibt Hunderte von Akupunkturpunkten am Körper. Viele davon sind offensichtlich auch Klangrezeptoren. Das Akupunktursystem steht in enger Verbindung mit dem autonomen Nervensystem. Dies erklärt auch, warum hörbeeinträchtigte oder taube Menschen harmonisch zu Musik tanzen können.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Ob etwas als Lärm empfunden wird, ist zum Teil subjektiv. Zum anderen Teil gibt es eine objektive, mit Tests nachweisbare Wirkung von Tönen und Klängen, die für alle Menschen, Tiere und sogar Pflanzen essenziell ist. Denn die Lebensenergie, die alles durchwirkt, wird auch massgeblich durch die akustische Umgebung beeinflusst. Wie in den eingangs geschilderten Erfahrungen des Bauern anklingt, hat das Erleben von äusserer Stille eine Verbindung zur inneren Stille.

Der Bauer findet auf der Alp den Frieden, kommt zu sich selbst. Dort gebe es, sagt er, kein Burn-out. Ein erfahrener Meditationslehrer spricht davon, dass die Stille stillt. Meditation ist eine Übung, sich in Stille dem Stillsein hinzugeben. Äusserlich wird ein ruhiges Plätzchen gesucht, um innerlich in die Herzensruhe zu kommen. Dabei können wir uns entspannen und zu einem ruhigen, tiefen Atmen kommen. Alle Gedanken und Emotionen können in den Hintergrund treten oder sich ganz auflösen. Dabei lassen wir immer mehr los, wollen nichts mehr festhalten und kommen gerade dadurch zu neuem Halt. So erhalten wir neue Kraft, werden gestärkt, und manches in uns kann sich wandeln.

Ohne Stille kein Ton

Es gibt eine Beziehung zwischen Ton und Stille. Jeder Ton wird aus der Stille geboren, stirbt zurück in die Stille und ist während seiner Lebensspanne von Stille umgeben. Stille ermöglicht dem Ton das Sein. Sie ist der äusserlich nicht wahrnehmbare Anteil, der jedem Geräusch angehört. Wir können uns während eines Gesprächs die kurzen, stillen Zwischenräume zwischen den Sätzen bewusst machen. Indem wir auf die Stille im Aussen achten, werden wir auch innerlich stiller.

Stille lässt sich auf vielen Ebenen erfahren. Auf der äussersten ist es Ruhe im Sinne von: ohne Lärm, ohne Töne. Auf tieferen Ebenen ist Stille erfahrbar als Raum. Wenn wir still werden, erfahren wir die Dimension hinter den Formen. Sie liegt jenseits vom Denken, jenseits vom Ego, ist reines Gewahrsein. In der Stille sind wir ganz uns selbst, sind wir so, wie wir waren, bevor wir die Form dieser Person und dieses Körpers angenommen haben. Wir sind dann mit dem Ewigen in Kontakt.Darum heisst es: «Stille ist die Sprache Gottes, und alles andere ist eine schlechte Übersetzung.» Sie ist das Leben, und wenn wir still sind, erfahren wir Frieden. Stille ist gleichbedeutend mit Ausdehnung und mit Widerstandslosigkeit. Durch Stille können wir alles durchdringen, jeden Schmerz, jeden Gegenstand. Sie ist die Anwesenheit einer übergeordneten Kraft, die fähig ist, alles zu durchdringen. Sie führt in unbekannte Tiefen, kennt keine Grenzen, ihr bleibt nichts verborgen.

Lao-Tse drückt es so aus: «Dringst du vor zur äussersten Leere / in der Stille des reinen Herzens, / schaust du der Dinge ewigen Wandel. / Jedes Ding in seinem rastlosen Streben / findet heim zur Wurzel seines Ursprungs. / Diese Rückkehr zur Wurzel heisst Stille, Frieden. / Diese Stille heisst Heimkehr zur Quelle. / Heimkehr zur Quelle ist Ewigkeit. / Dieses Ewige erkennen heisst Erleuchtung.»