«Gelegentlich werde ich gefragt, was ich sehe beim Meditieren. Ich sehe nichts. Und das mit offenen Augen. Es ist das Markenzeichen des Zen, dass man mit geöffneten Augen meditiert. Die Brücke zur Aussenwelt wird nicht abgebrochen, aber auch nicht betreten. Man ist durch alle Sinne mit der Welt verbunden, zugleich aber ganz nach innen gekehrt. Dieser andere Blick bringt das Aussen mit dem Innen zusammen, schafft eine Synthese.
Dabei gilt es, zwischen spiritueller Übung und Haltung zu unterscheiden. Die Übung geschieht während einer bestimmten Zeit, die man sich am Morgen und Abend nimmt, sei das für Besinnung, Exerzitien oder in meinem Fall Zen-Meditation. Entscheidend ist aber nicht die Übung, sondern die Haltung, die sich daraus ergibt und die sich auch im Alltag bewähren muss.
Die grosse Verbundenheit
Auf die Übung kann ich pfeifen, wenn ich nur im Stillsitzen offen bin. Andererseits gilt auch: Fehlt die Übung, geht die damit verbundene Haltung mit der Zeit verloren. Ohne ein Minimum an Meditationspraxis ist es illusorisch, im achtsamen Zustand zu bleiben. In diesem Zustand der Achtsamkeit gelingt es, die Dinge zusammenhängend zu sehen, vernetzt. Man merkt, wie alles miteinander verbunden ist, wie Leben isoliert gar nicht denkbar ist. Das sind Zusammenhänge, die sich auch mit den Erkenntnissen aus den Naturwissenschaften decken.
So erfährt man die Welt als Stück von einem selbst. Eine Welt, die ich selber bin, kann mir nicht gleichgültig sein, ich möchte Sorge für sie tragen. Und diese Sorge bekommt der gefährdeten Schöpfung gut.
Eintauchen in einen grundlosen Grund
Zugleich taucht man ein in einen grundlosen Grund, in dem es nichts Abschliessendes gibt, in dem die anderen Menschen nicht ausgelotet werden, sondern alles unauslotbar bleibt. Das sind beglückende Erfahrungen, ob man sie nun mystische Momente nennt oder nicht.
Manchmal möchte ich den Leuten zurufen: Schaut genauer, schaut nach innen, geht nach innen, dann seht ihr die Welt anders. Doch zur offenen, aufmerksamen Haltung gehört eben auch, sich von anderen Menschen kein Bild zu machen. Das ist eine grosse Herausforderung, denn es passiert meist ganz automatisch, hat auch mit erster Sympathie oder Antipathie und dem richtigen oder falschen Moment zu tun.
Die freundschaftliche Haltung ist vorbehaltlos
Darum erfüllt mich eine neue Erfahrung, die im letzten Jahr immer intensiver wurde, mit grosser Freude. Ich nenne sie freundschaftliche Haltung. Diese Haltung verlangt einen vorbehaltlosen, offenen und wohlwollenden Blick auf alle Menschen. Echte Freundschaft ist nur möglich, wenn ich dem anderen immer alles gönne und die Begegnung mit ihm völlig zweckfrei ist. Und wenn ich mir für mein Gegenüber viel Zeit nehme. Über die Freundschaft, die der griechische Philosoph Aristoteles ‹Philia› nennt, gibt es nicht nur bei ihm viel zu erfahren, sondern etwa auch im Roman ‹Die Pest› von Albert Camus, der in Corona-Zeiten eine Renaissance erlebt hat. Auch ich habe ihn letztes Jahr nochmal mit Gewinn gelesen.
Der freundschaftliche Blick zusammen mit meiner Meditationspraxis lässt mich hoffen, doch noch frei von allen Bildern zu werden, bevor ich sterbe. Was dabei hilft, ist die Einsicht, dass wir immer Gefahr laufen, uns Bilder zu machen vom Gegenüber. Wenn man sich dessen bewusst ist, hat man ein inneres Glöcklein, das dann automatisch Alarm schlägt.
Frei werden von den Bildern
Bilder haben immer weniger Platz in mir, seit ich in die freundschaftliche Haltung gefunden habe. Denn sie schlägt einem Pinsel und Stift aus der Hand. An die Stelle von Bildern tritt eine radikale Offenheit des völligen Nichtwissens.»