Recherche 25. November 2015, von Rita Jost

«Der Kirche fehlt es an Unternehmergeist»

Reformen

Grössere Kirchgemeinden sind zunehmend unter Druck. Sie müssen sparen und abbauen. Das geht nicht ohne Nebengeräusche. Wie das Beispiel Bern zeigt.

«Ich bin völlig desillusioniert, ich hab mir diese zeitintensive Arbeit produktiver vorgestellt.» Stefan Broder, 50, vor einem Jahr in den Kleinen Kirchenrat der Gesamtkirchgemeinde Bern (Exekutive) gewählt, wirft das Handtuch und verlässt das Milizgremium. Nach nur wenigen besuchten Sitzungen. Nicht aber ohne seine «Erlebnisse innerhalb der kirchlichen Institutionen in Bern» in einem zwanzigseitigen kritischen «Feedback» aufzulisten und breit zu streuen.

Er ist auch bereit, darüber zu sprechen: «So kann ich nicht arbeiten, so ineffizient und ziellos, mit Leuten, die noch nicht bereit sind, die wesentlichen Baustellen zu bearbeiten. Dieser Kirche fehlt es an Unternehmergeist.»

Analyse und Vorschläge. Der Elektroingenieur, Ehemann einer Pfarrerin, nach eigenen Angaben ein «ganz normales Kirchenmitglied», hat sich im Oktober 2014 in den Kleinen Kirchenrat (KKR) der Gesamtkirchgemeinde Bern wählen lassen. In einer schwierigen Phase: Die Stadtberner Reformierten stecken mitten in einem grossen Umbruchprozess: Die zwölf Kirchgemeinden haben 2010 den Strukturdialog gestartet. Es ist eine tiefgreifende Reorganisation, an deren Ende – voraussichtlich 2019 – die Kirchgemeinden der Stadt Bern ganz neu organisiert dastehen sollen.

Stefan Broder wollte nach eigenen Angaben «aktiv mitarbeiten». Er habe in verschiedenen Betrieben – unter anderem bei der Swisscom – Umstrukturierungen mitgestaltet. Aus diesem Grund fand er: «Ich bin geeignet für dieses Amt.» Nach knapp einem Jahr ist er allerdings anderer Ansicht. «Die Gesamtkirchgemeinde Bern ist momentan noch nicht bereit, die entscheidenden Reformschritte umzusetzen.» Man habe sich allzu sehr an den heutigen – schlechten – Zustand gewöhnt.

Das enttäuschte Ratsmitglied kritisiert aber nicht nur. Broder macht konkrete Verbesserungsvorschläge. Als Erstes sollte die Gesamtkirchgemeinde Bern seiner Ansicht nach klare Ziele formulieren, etwa eine Mindestzahl von Kirchenmitgliedern in 25 Jahren festschreiben. Diesem Ziel wären danach alle Teilschritte unterzuordnen. Eine Abstimmung unter allen Kirchenmitgliedern könnte zeigen, in welcher Form sich die Stadtberner Kirchgemeinden organisieren sollen. Die Reorganisation müsste dann in drei Jahren umgesetzt werden.

Es wäre jedoch eine «Vitalisierung» der Mitarbeitenden der Kirchgemeinden und des Kirchmeieramtes nötig; das heisst, sie müssten motiviert werden, die Änderungen im positiven Sinn umzusetzen. Konsequent wäre ein ganzheitliches Kostenmanagement nötig. Eine Studie sollte die religiösen Bedürfnisse der Bevölkerung zeigen. Und schliesslich müsste viel mehr Geld in die Jugendarbeit und in mitgliederbegeisternde Projekte fliessen.

Einwände und Zustimmung. «Stefan Broder hat es sich nicht einfach gemacht», anerkennt Andreas Hirschi, Präsident des Kleinen Kirchenrates. Er habe sich hingesetzt und viel Richtiges festgehalten. Doch an der Umsetzung von Vorschlägen, wie Broder sie auflistet, werde zum grossen Teil schon lange gearbeitet. Zudem sei seine Sicht klar unternehmerisch und nicht einfach auf eine öffentlich-rechtliche Körperschaft übertragbar. Und mit seinen Pauschalurteilen zeige Broder wenig Verständnis für den Einsatz der vielen Freiwilligen, findet Hirschi: «So wirkt das Papier vor allem mit Blick auf das kurze Engagement unfair und respektlos.»

«Keinen dicken Hals» hat hingegen nach eigenen Worten Johannes Gieschen bekommen – auch wenn die Art des Austritts Broders «ein bisschen unglücklich» geraten sei. Gieschen – Ökonom und Theo-loge – ist ebenfalls Mitglied des KKR und leitet die neu formierte Projektkommission zur Umsetzung des Strukturdialogs. Dass sich jemand so hinsetze und einbringe, verdiene Dankbarkeit, Respekt und Anerkennung. Konzeptionell und inhaltlich sieht Johannes Gieschen – wie Hirschi – aber nicht viel Neues: «Fast alles ist in irgendeiner Form aufgegleist.» Insofern sei das Papier «Rückenwind für die laufende Reform».

Nicht einverstanden ist er mit dem Vorwurf, dass viele Missstände in den Laiengremien begründet seien: «Im KKR beispielsweise haben wir Banker, einen Rechtsprofessor, Verwaltungsjuristen – Fachleute, die wir schlicht nicht bezahlen könnten.» Auch Broders Vorwürfe in Bezug auf die Kultur in den Kirchengremien empfindet Gieschen als «Rundumschlag, in dem ich mich nicht wiederfinde». Bewahrermentalität? Misstrauen? Verlustängste? Fehlender Ehrgeiz? Beschönigungen? Einmischung, ohne Verantwortung zu übernehmen? Johannes Gieschen findet solche Pauschalurteile «schade»; gerade im Kleinen Kirchenrat erlebe er es anders.

Kern und Rand. Bleibt die Frage: Warum laufen kirchliche Veränderungsprozesse dermassen harzig, dass Gremienmitglieder abspringen? Hans Strub, Leitungsmitglied am Institut für Kirchenentwicklung an der Universität Zürich und in Bern ebenfalls in der Projektleitung des Strukturdialogs, kennt den Vorwurf. Er weiss aber auch: In Kirchen geht es dem aktiven Kern immer auch um Wertefragen. Viele arbeiten seit Langem mit viel Herzblut. Dadurch sei das Kränkungspotenzial gross – und der Veränderungswille eher klein. Trotzdem, sagt Strub, müsse die Kirche Kritiker ernst nehmen und könne sie nicht einfach als Randerscheinung abtun. Veränderungen kämen – auch in der Kirche – immer von den Rändern her.

Und wie gehts jetzt weiter in Bern? Stefan Broder hat dem Kleinen Kirchenrat den Rücken gekehrt. Aber sein Schreiben bleibt nicht nutzlos: «Es gibt keinen Grund, das Feedback einfach unter den Tisch zu wischen», ist Johannes Gieschen überzeugt, «es wird sicher wirken.»

Das Papier von Stefan Broder können Sie hier als PDF herunterladen.

Feedback an die Gesamtkirchgemeinde
pdf Download

Kirchgemeinden organisieren sich neu

Die Gesamtkirchgemeinde Bern ist nicht die einzige, die ihre Strukturen überdenken muss. In Biel wurde eine ähnliche Reor­ganisation 2012 abgeschlossen. Und in Zürich hat das Stimmvolk im letzten Jahr beschlossen, aus den heute 34 Stadtgemeinden bis 2019 eine einzige Grossgemeinde zu bilden. Der Entscheid fiel überraschend eindeutig aus. Nun befindet man sich in der Umsetzungsphase.

Zwei Vorgehen. Warum geht es in Bern langsamer als anderswo? Hans Strub, Leitungsmitglied am Institut für Kirchenentwicklung der Universität Zürich, ist überzeugt, dass den Zürchern ähnliche Diskussionen noch bevorstehen. Im Unterschied zu Bern hat Zürich zuerst die grundsätzliche Frage (1 oder 15 Kirchgemeinden?) geklärt. Die Liegenschaftsplanung wurde vorerst ausgeklammert. Sie ist jedoch erfahrungsgemäss das «heisseste Eisen».

Informationen zum Strukturdialog in der Stadt Bern und zum letzten Beschluss des Grossen Kirchenrates finden Sie in diesem Beitrag.