Politik 21. Oktober 2024, von Karin A. Wenger

Evangelische Kirche hilft Vertriebenen

Krieg

Über eine Million Libanesen mussten aus ihren Häusern fliehen. In Beirut hilft die armenische Kirche, schiitische Geflüchtete zu versorgen, auch mit der Unterstützung des Heks.

Sie wollten bleiben, Haythan Bilal und seine Familie. In ihrem Haus mit Garten, in dem bereits Bilals Grossvater gelebt hatte. Sie wollten bleiben in ihrem Städtchen Harouf, in dem sie ihre Nachbarn kannten. Sie wollten mitten im Süden Libanons ausharren, obwohl dort seit einem Jahr manchmal mehr und manchmal weniger israelische Raketen eingeschlagen waren.

Der Schreiner Bilal und seine Familie blieben. Bis sie am 23. September doch zur Flucht aufbrachen, da eine Rakete ein Haus in ihrer Nähe getroffen und mehrere Menschen getötet hatte. So erzählt es Bilal.

Auf der Flucht im Stau

Er stopfte hastig einige Kleider in eine Tasche, stieg ins Auto und fuhr um die Mittagszeit mit seiner Frau und den vier Kindern Richtung Norden. Zehntausende versuchten an jenem Montag, vor dem Krieg aus dem Süden zu fliehen. Die Familie Bilal steckte so lange auf den überfüllten Strassen fest, dass sie Beirut erst in der Morgendämmerung erreichte, obwohl die Hauptstadt gerade einmal 70 Kilometer von Harouf entfernt liegt.

Seit die libanesische Hisbollah-Miliz am 8. Oktober vor einem Jahr einen Grenzkrieg mit Israel provozierte, fürchteten sich viele Libanesinnen und Libanesen vor dem, was nun am 23. September geschehen ist: Der Krieg eskalierte. Israel greift seither hundertfach aus der Luft an, die schiitische Hisbollah feuert zurück, im Süden toben Gefechte am Boden. Mehr als 2300 Menschen im Libanon wurden schon getötet, und über eine Million mussten aus ihren Stuben und Kinderzimmern flüchten.

Zuflucht in den Bergen

Wer Glück und genug Geld hat, wohnt nun vielleicht in einem Haus in den Bergen. Viele andere schlafen in Hotels oder gemieteten Zimmern in Beirut und im Norden des Landes. 190 000 fanden Unterschlupf in Gebäuden und Schulhäusern, die der bankrotte Staat zu Notunterkünften umfunktioniert hatte. Auch die Familie Bilal schläft nun in einem Schulhaus im Beiruter Quartier Bourj Hammoud.

Heftige Reaktion

Das Massaker, das die Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 an der israelischen Zivilbevölkerung verübte, liess die Gewalt eskalieren. Der Gazakrieg forderte Tausende zivile Opfer. Die Hisbollah intensivierte ihren Raketenbeschuss auf Israel. Im September legte Israel mit einer Geheimdienstoperation das Kommunikationsnetz der Hisbollah weitgehend lahm und eliminierte zahlreiche Kämpfer. Am 27. September wurde der Anführer der schiitischen Miliz, Hassan Nasrallah, bei einem gezielten Raketenangriff in Beirut getötet. Am 17. Oktober meldete die israelische Armee den Tod von Hamas-Chef Yahya Sinwar, der als Drahtzieher des Angriffs vom 7. Oktober gilt.

Das Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (Heks) leistet in Gaza Nothilfe. Zudem kümmert sich die Partnerorganisation Nadjeh auch im Libanon um Menschen, die vor dem Krieg flüchten mussten. «Die Zerstörung ist gewaltig, das Leid der Zivilbevölkerung wächst», sagt Leila El Ali von der feministisch-palästinensischen Organisation. Mit der armenisch-evangelischen Kirche in Beirut verbindet das Heks eine langjährige Partnerschaft. Im von Armut geprägten Stadtteil Bourj Hammoud wird der Sozialdienst der armenischen Gemeinde unterstützt. Durch die Bildungsarbeit der Kirche erhalten Kinder aus benachteiligten Familien die Chance auf einen Schulabschluss. (FMR)

Vor der Unterkunft sitzen der Vater und sein 18-jähriger Sohn Moustapha, ein Informatikstudent, der gern Tattoos zeichnet und Gedichte verfasst. Die übrigen Familienmitglieder mögen sie nicht dazuholen, sie haben wohl, wie viele Vertriebene, wenig Lust, mit der Presse zu sprechen. Aus den Fenstern der Unterkunft hängen Kleider. Knapp 200 Personen leben in den drei Stockwerken. «Uns geht es gut hier», sagt Bilal. Und fügt an: «Aber das ist nicht mehr unser Leben.»

Eine natürliche Reaktion

Dass die schiitischen Vertriebenen in Bilals Unterkunft mit dem Nötigsten versorgt sind, geht auch auf das Engagement des armenisch-evangelischen Pfarrers Sebouh Terzian zurück. Der 58-Jährige, der in Bourj Hammoud ein Altersheim leitet, wusste beim Ausbruch des Kriegs sofort, dass die Geflüchteten die Infrastruktur der Städte überfordern würden. Er hat Erfahrung im Helfen: Schon in den 1990er-Jahren und dann im Krieg des Jahres 2006 hatte er sich um Vertriebene gekümmert, die damals in seiner Universität Unterschlupf fanden.

Sebouh Terzian trägt an diesem Nachmittag Mitte Oktober zusammen mit jungen Freiwilligen gerade Waschmittel, Besen und Packungen von Windeln aus Minibussen zum Eingang der Unterkunft von Familie Bilal. «Wir sind nicht verpflichtet zu helfen, aber das ist unsere natürliche Reaktion», sagt Terzian. «Wir als Kirche möchten gute Nachbarn sein.»

Die Skepsis überwinden

Die Skepsis überwindenIm Libanon mit den 18 verschiedenen Religionsgemeinschaften kümmern sich während Krisen traditionell die jeweiligen Gruppen um ihre eigenen Leute. Man hört derzeit von Hausbesitzern, die keine Geflüchteten bei sich aufnehmen wollen: Sie fürchten sich, unter ihnen seien auch Mitglieder der Hisbollah, die zum Ziel israelischer Angriffe werden könnten. Auch Pfarrer Terzian erzählt, die alten Menschen in seinem Altersheim hätten Angst, dass Raketen in ihrer Nähe einschlagen könnten.

Der Skepsis trotzt eine Schar junger Menschen in Beirut, die sich in diesen Tagen gruppenübergreifend engagieren, was auch schon nach der Hafenexplosion 2020 so war. Sie kochen jeden Tag Mahlzeiten, sammeln Spenden, verteilen Matratzen an Vertriebene, die noch immer draussen in Zelten ausharren.

Die grosse Ungewissheit

Pfarrer Terzian versucht ebenfalls, die Jugendlichen seiner Kirchgemeinde zu animieren. «Wenn du zu Hause im Fernsehen dem Krieg zuschaust, wirst du depressiv. Helfen hilft auch dir selbst.» Zurzeit beliefert er mit einer Gruppe Freiwilliger zwei Unterkünfte, bald soll eine weitere hinzukommen.

Die Hilfsgüter kauft er mit Spendengeldern des Hilfswerks der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (Heks), mit dem die armenische Kirche in Bourj Hammoud schon lange zusammenarbeitet.

Noch scheint die Motivation der Helferinnen und Helfer in Beirut gross. Wie lange halten sie jedoch durch? Wie viel Zeit wird vergehen, bis die Spendengelder nachlassen? Wohin mit den Vertriebenen, wenn die Schulen wieder aufgehen sollen? Die Ungewissheit nagt. Hinzu kommt die Angst vor den israelischen Luftangriffen, die schon das Zentrum von Beirut und den Norden des Landes getroffen haben.

Kein geschützter Ort

Für den Fall, dass Raketen auch in der Nähe des Altersheims einschlagen, hat Pfarrer Terzian keinen Evakuierungsplan: «Wo sollen wir denn hin? Wir bleiben.» Er lacht kurz und sagt: «Immerhin hören viele im Heim nicht mehr so gut.»

Haythan Bilal und sein Sohn hoffen, bald aus Beirut aufzubrechen in Richtung ihres Hauses mit Garten. «Wir werden zurückkehren», sagt Bilal mit fester Stimme, «selbst wenn wir unser Zuhause wieder aufbauen müssen.»