Staub – ein mystischer Stoff des Übergangs

Spiritualität im Alltag

Von Lorenz Marti, Buchautor und Religionsredaktor beim Schweizer Radio SRF 2 Kultur.

Überall. Manchmal tanzt er in einem Lichtstrahl durch die Luft. Das ist ja noch ganz schön. Aber bald einmal lagert er sich als gräulicher Belag auf den Gestellen ab. Das ist nicht mehr so schön. Oder er verbindet sich mit seinesgleichen zu fus­seligen Wollmäusen unter Schrank und Bett. Das ist gar nicht mehr schön. Der Staub muss weg! Ich nehme einen Lappen und wische ihn beiseite. Ich nehme den Staubsauger und verfolge ihn bis in die hintersten Ecken. Doch der Staub kehrt zurück. Garantiert. Er macht sich nicht einfach so aus dem Staub.

Urknall. Ob es uns gefällt oder nicht: Staub gehört zu dieser Welt. Seit dem Urknall breitet er sichunablässig bis in die entlegensten Ecken des Alls aus. Und eines istsicher: Wenn jemand auf die Idee gekommen wäre, mit einem Staub­sauger durch die kosmischen Räume zu fahren, wären wir jetzt nichthier. Schliesslich hat eine interstellare Staubwolke vor Jahrmilliarden die Erde und später uns Erdenkinder hervorgebracht. Wir sind Staub­fänger, im doppelten Sinne dieses Wortes: Staubwesen auf der Jagd nach Staub. Man könnte das beinahe für einen kosmischen Witz halten, wenn es nicht Realität wäre.

Urstoff. Staub heissen die kleinsten schwebenden Teilchen, die überall gegenwärtig sind. Sie bewegen sich an der Grenze zum Nichts und durchdringen alles. Sämtliche Materie beginnt als Staub und endet als Staub. Staub bist du, zum Staub kehrst du zurück, heisst es in der Bibel. Der Dichter Ernst Jandl nennt den Staub «mein verstreutes Ebenbild». Dieses Ebenbild gefällt den wenigsten. Und so verschwindet es bald einmal im gefrässigen Rüssel eines Staubsaugers.

Spur. Das Leben ist ein dauernder Kampf gegen den Staub. Mit gutem Grund: Staub ist schmutzig, Staub macht krank. Doch Staub ist nicht einfach der letzte Dreck. Er hat auch seine guten Seiten. Wir brauchen ihn. Alles Leben braucht ihn. Für viele natürliche Kreisläufe ist er unentbehrlich. Jeder Regentropfen benötigt ein Staubkörnchen als Kristallisationskern. Die Böden, Pflanzen und Meere sind auf den Staub als Transportmittel für ihre Nährstoffe angewiesen. Staub heisst die feine, unvermeidliche Spur des Lebens. Sie erzählt manch eine Geschichte.

Respekt. Staub ist auch der Horizont, auf den sich alles zubewegt. Seine graue Farbe ist ein dauerndes memento mori. Er ist ein Stoff des Übergangs. Ewig flüchtig und doch immer da. Die Melancholie der Materie. Und ich weiss nicht so recht, ob ich den allgegenwärtigen Staub jetzt schätzen oder verwünschen soll. Vielleicht beides: Mit Lappen und Staubsauger ans Werk gehen und meinem verstreuten Ebenbild adieu sagen – bis morgen, dann ist es bestimmt wieder da. Und darf bleiben, wenn auch nur für kurze Zeit. Ich werde ein Auge zudrücken. Sein Ebenbild sollte man mit Respekt behandeln.