Graham Tomlin seziert das Selfie-Zeitalter

Sachbuch

Das kluge und unterhaltsame theologisch-philosophische Traktat ist eine treffende Analyse einer Gesellschaft im Selbstoptimierungswahn.

Da ist zunächst dieser Slogan – fast ein Gedicht sogar. Der britische Autor Graham Tomlin beginnt seine neueste Publikation unkonventionell mit dem Zitieren des Werbespruchs einer Modemarke, die sich «Be Yourself» nennt. Es ist eine zehnzeilige Aufforderung, nicht an sich zu zweifeln und sich so zu lieben, wie man ist. 

Das klingt an sich ganz schön, doch versteckt sich darin für Tomlin die ganze Misere unserer Zeit. In seinem Buch macht sich der ehemalige Bischof von Kensington daran, den pseudophilosophischen Kalenderspruch aus der Welt des Marketings zu demaskieren. 

Für Tomlin ist allzu offensichtlich, wie die Fixierung auf Selbstliebe und Selbstoptimierung sowie die Maxime der individuellen Freiheit eine Schneise in den gesellschaftlichen Zusammenhalt schlägt. Und den Planeten durch Konsumwahn in den Abgrund zu reissen droht. 

In seiner vielseitigen, oft humorvollen und mit gelungenen Allegorien versehenen Abhandlung spannt Tomlin weite Bögen. Sie reichen vom introspektiven, psychologischen Erforschen der menschlichen Seele über historische Exkurse bis zur bissigen Kapitalismuskritik. 

Wir haben uns noch nie so alleine gefühlt.
Graham Tomlin, anglikanischer Theologe

Der Glaube als Angebot

Die unheimlich grosse Fülle an Themen hat stellenweise zur Folge, dass sich Tomlin ein wenig verzettelt. Trotzdem wird es nie langweilig, denn der Aktualitätsbezug als roter Faden hält die Spannung hoch und wirkt stringent. Ein wesentliches Augenmerk richtet der Anglikaner auf die Abkehr von der egoistischen Nabelschau hin zum Blick auf die Welt ausserhalb unser selbst und hin zur Schöpfung. Die Alternative zu den Eckpfeilern des «narzisstischen Zeitalters» sei der Wertekompass eines gläubigen Christen.

Tomlins Kritik zielt vor allem auch auf die soziologischen Merkmale des digitalen Zeitalters. So konstatiert er, dass «wir nie zuvor stärker miteinander vernetzt waren als heute, und trotzdem haben wir uns noch nie so alleine gefühlt». 

Der Vernetzung setzt er die Liebe und den Glauben entgegen – aber in aller Bescheidenheit als ein Angebot, nicht als ultimative, missionarische Aufforderung.

Graham Tomlin: Sei du selbst! Und andere schlechte Ideen. TVZ, 2025