Glaube 24. Juni 2025, von Karin A. Wenger

Christlichen Exodus verhindern

Reportage

Christliche Dörfer im Nordirak drohen zu verschwinden. Das Hilfswerk Capni bietet den Menschen Perspektiven, die bleiben wollen. Für seine Arbeit ist es auf Spenden angewiesen.

Der Spaziergang in der Mittagshitze dauert nicht lange. Nisreen Yaqoob (62) trägt im Irak beliebte Plastikslippers, ihre Freundin Fairoz Yousif (51) ist zu Hause in Flipflops geschlüpft. Seite an Seite gehen sie vorbei an den kleinen grünen Vorgärten, dahinter Häuser mit Flachdächern, die meisten einstöckig. 

Hier im Dorf Dawodiya, mitten in der Pampa im äussersten Norden Iraks, raschelt der Wind in Aprikosenbäumen und manchmal bellt ein Hund in die Stille. Die Tage der beiden Frauen sind gleichförmig, und es braucht wenig – wie an diesem Montag Ende Mai –, um den Alltag kurz zu durchbrechen.

Kampf ums Überleben

Sie sind unterwegs zu einem geräumigen, zu einem Versammlungsraum umgenutzten Container, in dem schon Dutzende Ältere geduldig warten. Sie plaudern leise, jemand hat Tee mitgebracht.

Etwas weniger als 200 Menschen leben in Dawodiya. Wie viele andere christliche Dörfer im Nordirak kämpft der Ort ums Überleben. Obwohl sich die Lage in den letzten Jahren entspannte und die Regierung von Premierminister Sudani in der Hauptstadt Bagdad Strassen, Brücken und Hochhäuser bauen lässt, liefert der Staat nur wenige Stunden Strom pro Tag in die Haushalte. Etwa ein Viertel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze.

Das Reich der Männer

In Dawodiya gibt es kaum Arbeit und wenig Unterhaltung, das einzige Café ist das Reich der Männer. Eine von Yaqoobs erwachsenen Töchtern, eine Lehrerin, ist geblieben. Für die Arbeit muss sie ins Nachbardorf, die Mauern der Schule in Dawodiya haben Risse, der Innenhof ist seit Jahren verwaist. Die andere Tochter lebt mit den Grosskindern in der Stadt Dohuk, die eine Autostunde entfernt ist. Yousifs beide Söhne sind in die USA nach Michigan ausgewandert. «Ihnen fehlt der Irak», sagt Yousif, «aber es gibt hier keine Arbeit für sie.»   

Langjährige Zusammenarbeit

Der irakische Erzdiakon Emanuel Youkhana studierte zuerst Elektroingenieur, bevor er sich in den Dienst der Assyrischen Kirche des Ostens stellte. 1993 gründete er das Hilfswerk Capni (Christian Aid Program Northern Iraq), das seither Nothilfe im Nordirak leistet. Morddrohungen zwangen ihn und seine Familie ins deutsche Exil. Heute lebt er wieder weitgehend im Irak und hat dort vor allem nach der humanitären Krise, ausgelöst durch die IS-Terrormilizen, das Werk zu einem wichtigen Player für den Wiederaufbau der zerstörten christlichen und jesidischen Dörfer eatbliert. Die Zürcher Landeskirche ist ein langjähriger Partner von Capni.

Sammelkonto der reformierten Landeskirche des Kantons Zürich:

IBAN: CH35 0900 0000 8000 2020 8

Vermerk: 280005 Bedrängte Christen

In den Orten, in denen die Menschen immer älter werden und die Jungen wegziehen, ist ein grosses Problem, dass Arztpraxen und Spitäler oft weit entfernt liegen. Auch in Dawodiya. Dennoch sagt Nisreen Yaqoob: «Ich will auf keinen Fall auswandern. Ich mag das Leben hier mitten in der Natur.»

Im Schatten der Krisen

Einer der Gründe, wieso die beiden Freundinnen zwar ein manchmal umständliches, aber dennoch würdevolles Leben führen können, wartet im Container.  Ein junger Arzt sitzt hinter einem Tisch, vor ihm liegen ein Blutdruck- und Blutzuckermessgerät, Papierstapel, ein Tablet und ein Koffer mit der Aufschrift «Mobile Clinic». Er ist ein Doktorand aus Duhok, der für das Hilfswerk Christian Aid Program Northern Iraq (Capni) in die Dörfer fährt.

Die mobile Klinik – ein Bus voller Medikamentenboxen – besuchte vor einigen Jahren noch 30 Orte im Nordirak. Jetzt sind es weniger als die Hälfte. Dem Hilfswerk, das seit 2009 auch von der reformierten Kirche des Kantons Zürich unterstützt wird, brechen die Gelder weg. Irak sei keine Priorität mehr, sagt Emanuel Youkhana, der Capni Anfang der 1990er-Jahre gründete und bis heute leitet. Nun seien andere Krisen akuter in der Welt.

Im Container setzt sich Nisreen Yaqoob zum Arzt, sagt ihm auswendig ihre Patientennummer, die er ins Tablet eintippt. Sie hat Diabetes und hohen Blutdruck. Jeden Monat erhält sie Medikamente. Viele der alten Menschen im Dorf litten unter chronischen Erkrankungen, sagt der Arzt. Er hilft ihnen beim Dosieren der Medizin, doch manchmal muss er sie in ein Spital in der Stadt zu Spezialisten schicken.

Tiefe christliche Wurzeln

Im heutigen Irak, früher Mesopotamien, existiert das Christentum seit etwa 2000 Jahren. Vor der US-Invasion 2003 lebten ungefähr 1,5 Millionen Christen im Land, heute sind es noch schätzungsweise 250 000. Die jüngste Geschichte war geprägt von Krieg und Verfolgung.

Nisreen Yaqoob und Fairoz Yousif lernten sich in Bagdad kennen. Yousif, die aus Dawodiya stammt, arbeitete dort als Pflegerin in einem Krankenhaus. Als nach der Invasion Chaos ausbrach, fürchtete Yaqoob um ihre Töchter. Die Al Kaida und andere Kriminelle entführten und töteten in den Strassen Bagdads. Mitten in der Nacht flüchtete sie mit ihrer Familie nach Dawodiya, dem Heimatdorf ihres Mannes. Als 2014 die Terrormiliz Islamischer Staat weite Teile Iraks eroberte, nahm Dawodiya Flüchtlinge auf.

«Plötzlich waren im Dorf so viele Leute», sagt Yousif. Mittlerweile seien die Familien wieder zurückgezogen, einige lebten nun in Grossstädten, andere im Ausland. In vielen Nachbardörfern hingegen sind die Vertriebenen geblieben. 

Rollstühle und Solaranlagen

Nun hat sich die Lage stabilisiert, doch die Dörfer im Norden Iraks liegen nahe an der türkischen Grenze. Dort fliegt die Türkei regelmässig Luftangriffe auf Stellungen der PKK, die in vielen Ländern als Terrororganisation gilt. Emanuel You­khana erzählt, dass im letzten Jahr in einem Dorf die Kirche beschädigt worden sei, in einem anderen die Bewässerungsanlagen, die sie für die Bauernhöfe gebaut hätten. Er hofft, dass die Luftschläge bald aufhören, da die PKK Mitte Mai mit ihrer Ankündigung überrascht hat, die Organisation aufzulösen.

«Wir arbeiten an besseren Lebensumständen, an der Hoffnung», sagt Youkhana, der selbst ein Attentat überlebte. Das Hilfswerk Capni verteilt Rollstühle, installiert Solaranlagen, stellt Gewächshäuser auf.

Eben haben sich Yousif und Yaqoob für Kredite beworben, um eigene Geschäfte aufzubauen. Yousif wünscht sich, Hühner im Garten zu halten und Eier zu verkaufen. Ihre Freundin plant, Konfitüre zu produzieren. «So viele von uns würden das Dorf ohne die Hilfe verlassen», sagt Yaqoob.