Wogen, Wolken, Wind und wir

Meer

Wie ist es, auf einem Segelschiff acht Tage lang das Meer zu befahren, nur auf die Mitfahrenden und sich selbst gestellt? Ein Erfahrungsbericht mit neun Aargauer Jugendlichen.

«Manuel, binde deine Haare zusammen, sie dürfen nicht in die Winsch geraten», ruft Sozialdiakonin Karin Rätzer dem 14-Jährigen zu. Manuel stemmt sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf den Hebel der alten Seilwinde, um sie in Bewegung zu bringen. Der Jugendliche hat von der Matrosin Christa van Oorschot den Auftrag bekommen, das Grosssegel der Confiance zu hissen. 

Das schafft er aber nicht allein. In einer Schlange hinter ihm stehen vier weitere junge Leute, die ihn ablösen können, wenn er keine Kraft mehr hat. Teamwork ist auf einem Segelschiff das Wichtigste. 

Eine Küche, zwei Duschen, zwei Tische

Im Auftrag der Kirchgemeinden Staufberg sowie Lenzburg-Hendschiken-Othmarsingen hat Karin Rätzer dieses Jahr die Confiance gechartert. Acht Jungs und ein Mädchen im Alter von 13 bis 14 Jahren haben sich gemeldet, um den achttägigen Segeltörn auf dem niederländischen Wattenmeer zu wagen. 

Die Confiance wurde wie weitere Segelschiffe ihres Typs ursprünglich als Güterschiff eingesetzt. Heute ist sie nur noch zum Vergnügen ihrer Passagiere unterwegs. 22 Personen haben maximal Platz. In der Kajüte gibt es die Küche, zwei Duschen mit Toiletten und zwei lange Holztische, an denen die Segelgäste aus dem Aargau essen oder spielen. 

Auf Kommandos hören 

«Ich brauche zwei weitere Leute», ruft Matrosin Christa auf Englisch in Richtung der Jugendlichen, die am anderen Ende des Schiffes sitzen, ihren Gedanken nachhängen oder Sprüche klopfen. Hier müssen sie sich miteinander beschäftigen, denn auf Deck herrscht Handy- und Kopfhörerverbot. Es ist wichtig, dass alle die Kommandos der Matrosin mitbekommen. 

Die Niederländerin ist 26-jährig und fährt ihre erste Saison auf dem Charterschiff. Unter anderem muss sie dafür sorgen, dass die Segel rechtzeitig oben sind und niemand am falschen Platz steht. Denn das kann gefährlich werden. 

Kein Plastikabkommen

Im August haben in Genf 2600 Delegierte aus 183 Ländern über ein internationales Abkommen beraten. Ziel: eine Verminderung der Plastikproduktion und die Förderung einer Kreislaufwirtschaft zur Schonung von Mensch und Umwelt, insbesondere auch der Meere. Diese fünfte Verhandlungsrunde seit 2022 ist nun ebenfalls gescheitert. Widerstand leisten Öl produzierende Staaten wie Saudi-Arabien, Russland, Iran und die USA. Eine weitere Verhandlungsrunde steht in Aussicht, Zeit und Ort sind noch offen.

Van Oorschot hat Wassermanagement studiert und sich im Auftrag der niederländischen Regierung unter anderem damit beschäftigt, ihr Land vor Überflutungen zu schützen. Denn 26 Prozent der Niederlande liegen tiefer als der Meeresspiegel. Momentan befindet sich ihr Arbeitsplatz jedoch nicht im Büro, sondern auf dem Wattenmeer. Sie sagt: «Ich will draussen sein. Dort, wo das Wasser ist.»

Gemeinsam mit den anderen Jugendlichen hat Manuel das Gross-segel nun gehisst. Es bleibt an diesem Tag gerefft, denn der Wind ist stark, und Kapitän Stefan Bunzel hat aufgrund der Wetterlage entschieden, auf dem Ijsselmeer zu segeln, das in geschützter Lage liegt. Für Bunzel, der ursprünglich aus Bayern stammt, ist Segeln seit Jahrzehnten sein Leben. 

«Gesellige Runde» 

Am Abend legt die Gruppe in Stavoren am Ostufer des Ijsselmeers an. Zum Tagesabschluss auf Deck ermuntert Karin Rätzer die Jugendlichen, zusammenzurücken, denn nun  sollen sie erzählen, wofür sie heute dankbar waren. «Ich bin dankbar, dass ihr es mit uns aushaltet», sagt jemand zu den Leiterinnen. Beim Morgenessen am nächsten Tag ermahnt Rätzer die Jugendlichen, dass die Gemeinschaft auf dem Schiff zentral ist: «Das Rührei muss für alle reichen. Ego-Trips, wie etwa das Essen zu hamstern, sind hier fehl am Platz.» 

Neben Eiern gehören Poffertjes mit Blaubeeren wie auch gebratener Speck zu den kulinarischen Extras, die regelmässig in ihren Lagern aufgetischt werden. «Rituale geben Sicherheit», sagt sie. Dazu zählt auch das Tischlied, das alle vor Beginn der Mahlzeiten singen: «Clap your hands and rise them high, believe in Jesus and you never gonna die, take your sisters by the hand, show them the way to the promised land.» Dazu klatschen die Jugendlichen in die Hände und formen mit ihren Zeige- und Ringfingern Gesten. 

Manuel trägt seine langen Haare meistens offen, was ihm in der Gruppe den Spitznamen «Tarzan» eingebracht hat. Er wirkt wie die anderen Jugendlichen müde, doch das Segeln macht ihm Spass. «Ich wünsche mir, dass wir einmal alle drei Segel hissen.» Heute soll es nach Vlieland gehen: Die erste Insel auf dem Törn wird angepeilt. 

Matrosin Christa benötigt nun die Hilfe der Jugendlichen, um den Klüverbaum herunterzulassen, ein Rundholz mit Segel, das über das Vorschiff hinausragt und nur auf historischen Schiffen zu finden ist. «Ohne die Hilfe unserer Gäste könnten wir das Schiff nicht segeln», sagt sie. Ein paar Jugendliche erheben sich und eilen der drahtigen Frau mit der hellen Haut und den Sommersprossen zu Hilfe. 

Ruhe in der Hektik

Die Matrosin bleibt auch in hektischen Situationen immer überlegt und freundlich. «Du und du», sagt sie zu zwei Jugendlichen, «ihr könnt nach vorn kommen und das Seil halten.» Christa würde den Jugendlichen gern mehr von ihrer Leidenschaft für das Meer erzählen. Aber so gut ist ihr Deutsch im Moment noch nicht. 

Am Nachmittag überzieht sich der Himmel grau, es beginnt zu regnen. Eingepackt in ihre Hoodies, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, hocken die Jugendlichen auf Deck und trotzen dem steifen Wind. Die Confiance gleitet mit 6,8 Knoten durchs Wattenmeer, Grosssegel und Vorsegel sind oben. Günstige Zeit zum Plaudern.

Ich geniesse die Zeit auf dem Meer, weil ich das Wasser mag.
Benjamin, jugendlicher Teilnehmer am Segellager

«Digga, was machen die Leute, die nicht zocken?», fragt sich Flurin, als das Thema Gaming aufkommt. «Keine Ahnung», sagt Benjamin verständnislos und nimmt einen Schluck aus der Plastikflasche, die mit einer roten Flüssigkeit gefüllt ist. Ein koffeinhaltiger Energiedrink, der als Wachmacher in der Gamingszene verkauft wird. 

An Bord der Confiance jedoch nutzlos, denn langes Spielen am Handy oder Computer ist nicht möglich. Für Benjamin aber gar nicht mal ein so grosses Problem: Er geniesst die Zeit auf dem Meer, weil er das Wasser mag, wie er sagt. 

Karin Rätzer geht unter Deck und kommt dann mit einem Lautsprecher in der einen und einem Heftchen in der anderen Hand wieder hoch: «Segeltörn 2025», steht darauf. Die Jugendlichen haben für den Törn Lieder gesammelt. «Jetzt singen wir mal etwas», kündigt Rätzer an. 

Zunächst zögerlich, später dann deutlich stimmen die Jugendlichen den Text von Elton Johns «I’m still standing» an. Beim letzten Lied mit dem Titel «This I believe» wirkt die Gruppe ganz harmonisch und beisammen: «I believe in God our Father, I believe in Christ the Son, I believe in the Holy Spirit, Our God is three in one.» Um die Gruppe herum ist nur die Weite des Meeres. 

Der Kampf mit dem Stoff 

Wenig später wirft der Kapitän den Motor des Schiffes an und fährt so in den Wind, dass die Segel abgewettert werden können. «Nun brauche ich viele Leute», ruft Matrosin Christa. Die acht Jungs sowie Amy sollen das schwere Grosssegel einwickeln. 

Es gilt, den schweren Stoff einzurollen und zu fixieren. Die einen stemmen mit aller Kraft das Segel hoch, damit die anderen die Rolle einbinden können. «Prima», lobt die Matrosin die Jugendlichen. 

«Die Entschleunigung, das Teamwork und die Einfachheit» gefallen Leiterin Karin Rätzer. Es ist das siebte Mal, dass sie ein Segellager anbietet. Daher weiss sie schon jetzt, dass sich am Ende des Törns aus einer lose zusammengewürfelten Gruppe ein Team gebildet haben wird. «Jeder und jede sollen hier in der Gruppe einen Platz haben. Das ist einer der Werte, die wir den Jugendlichen vermitteln.» 

Die Confiance steuert den Hafen von Terschelling an, als Fabian auf einmal ein zierliche Gestalt mit langen Beinen am Horizont entdeckt und ruft: «Dieser Vogel ist Jesus, er kann übers Wasser laufen.» Der Junge hat sich mit seiner Schlagfertigkeit zum Leader der Gruppe gemausert. Um seinen Hals baumelt neben einem Kreuz eine Kette mit einem goldenen Engel. Den habe er von einem Freund geschenkt bekommen, erzählt er.

Zudem trägt Fabian das T-Shirt einer Death-Metal-Band: «Ich weiss nicht, ob ihr diese Band kennt, bei den Liedern, die wir hier an Bord singen», sagt er scherzhaft zu seinen Leiterinnen. Fabian gefällt es in der Gruppe an Bord – und ganz speziell, dass es auf See immer frische Luft hat.

Coole Gruppe 

Am nächsten Morgen zeigt sich der Himmel hellblau mit ein paar Wolken. Der Wind ist frisch, aber nicht kalt. Sanft und dann wieder stärker wiegt die Confiance im Wind. Es ist noch ruhig im Hafen der westfriesischen Insel. Allein das Aneinanderschlagen der Leinen und Masten ist zu vernehmen. Durch die Luke steigt der Duft von gebratenem Speck. Das Küchenteam bereitet gerade das Frühstück vor. 

«Die Gruppe ist cool», meint Flurin, der schon auf dem Törn im letzten Jahr dabei war und hoffte, dass es beim zweiten Mal ebenso toll werde. «Wir haben uns besser kennengelernt», erzählt Fabian. Wenn die Schule nicht anfangen würde, wäre er noch an Bord geblieben.

Jetzt sind wir zu einem Team geworden und könnten gut noch eine Woche dranhängen.
Karin Rätzer, Sozialdiakonin

Karin Rätzer meint: «Jetzt sind wir zu einem Team geworden und könnten gut noch eine Woche dranhängen.» Auch die Matrosin Christa sieht die Fortschritte der Gruppe. «Die Jugendlichen fragen von selbst, ob sie helfen können, und wissen, was zu tun ist, damit wir segeln können.»

Gegen Mittag jedoch ist die Stimmung gereizt, es ist schwül auf Deck, und die Sprüche werden ruppiger. Hin und wieder müssen die Leiterinnen die Jugendlichen ermahnen. Doch dann gibt der Kapitän die Erlaubnis, eine Leiter vom Schiff ins Wasser zu lassen. Er hat eine Sandbank auf dem Wattenmeer angesteuert, so dass das Schiff trockenfallen kann. 

Wegen der Ebbe beträgt der Wasserstand hier nur 40 Zentimeter, und die Jugendlichen können ins Meer steigen. Vor Freude lassen sie sich ins Wasser fallen und spritzen jeden, der dazukommt, nass. Alle angestaute Energie kann endlich raus. «Das war jetzt genau das Richtige», meint Karin Rätzer. 

Das, was bleibt 

Im Hafen von Harlingen entsteht ein letztes Gruppenfoto. Alle tragen den geschenkten Hoodie mit der Aufschrift «Terschelling» und den Koordinaten der Insel. Mit dem Pullover und einem Gefühl von Zusammengehörigkeit reist die Gruppe im Zug zurück in die Schweiz. 

Ihr Ziel, den jungen Leuten das Abenteuer auf dem Meer zu ermöglichen, hat Karin Rätzer auch dieses Jahr erreicht. Sie ist dankbar, dass alles gut gegangen ist, denn sie trägt grosse Verantwortung. Aber die Lager seien das, was den Jugendlichen vom kirchlichen Unterricht jeweils in besonders guter Erinnerung bleibe, sagt sie. 

Noch auf der Rückreise erhält sie die Bestätigung, dass sie ein Schiff für das Segellager im kommenden Jahr chartern konnte: die Chance für eine andere Gruppe, zu einem Team zu werden, in der Enge des Schiffs und auf den Weiten des Meeres.