Ein Album zwischen Feuer, Groove und Gnade

Musik

Mit «Lotus» verarbeitet die Rapperin Little Simz Brüche und findet Klarheit. Sie erhebt sich mit Wut, Haltung und der leisen Spiritualität, die all ihre Alben durchzieht. 

Es ist ein fast intimer Moment: Little Simz steht am 4. Juni auf der Bühne bei «Live at the BBC» und performt den Song «Free». Ihr Auftritt ist zurückhaltend, getragen von einer eleganten Coolness. Die 31-jährige Londoner Rapperin wirkt klar, ruhig, ganz bei sich. Als hätte sie auf dieser Bühne nicht nur ein neues Album im Gepäck, sondern auch eine neue, kraftvollere Version ihrer selbst. «Free» klingt wie ein Fazit: «I found peace in myself, I’m free.» 

Simbiatu Abiola Ajikawo, geboren 1994 in London als Tochter nigerianischer Eltern, hat sich den Weg in die britische Musikszene selbst gebahnt. Ihre Karriere beginnt im Jugendclub St. Mary’s; als Teenager produziert Little Simz ihr erstes Mixtape, ohne Label. Die Musik ist voller Energie, statt Statussymbolik und Selbstinszenierung rappt sie über Herkunft, Zweifel und innere Kämpfe. Weil grosse Plattenfirmen sie nicht für vermarktbar genug halten, gründet sie ihr eigenes Label Age 101. Ihr Sound wird immer konzeptioneller – eine Mischung aus Soul, Jazz, Orchesterklängen und treibendem Rap.

«Free» klingt wie ein Fazit: «I found peace in myself, I’m free.»

Der Durchbruch gelingt 2019 mit «Grey Area», produziert von ihrem langjährigen kreativen Partner Inflo. Ein Album voller Schärfe und Selbstbewusstsein und ihr Eintritt als eigenständige Stimme im britischen Rap. Dann folgen das orchestrale, introspektive «Sometimes I Might Be Introvert» (2021) und das ruhigere, gospelgefärbte «No Thank You» (2022). 

Leitplanke und Kraftquelle

Ihre Werke bleiben durchzogen von Selbstbefragung, Gesellschaftskritik und spirituellen Motiven. «Introvert» etwa handelt von ihrem Kampf um Identität und Integrität in einer rassistischen Gesellschaft und von Gott als einer leisen, inneren Kraft. «Heart on Fire» verbindet innere Kämpfe mit einer göttlichen Perspektive: Darin macht sie dunkle Anspielungen wie «Devil works hard» und ihre Sehnsucht nach einer orientierenden Kraft spürbar. Little Simz prangert Rassismus, patriarchale Strukturen und kapitalistische Ausbeutung an, ohne je plakativ zu sein. Dabei verbindet sie das Politische mit dem Spirituellen, die grossen gesellschaftlichen Fragen mit persönlichen Erfahrungen.

Ich spreche die ganze Zeit mit Gott, ich scherze mit ihm.
Little Simz

Ein Begriff taucht dabei immer wieder auf: Gott. Little Simz sagt, sie gehöre keiner Religion an, doch sie pflegt eine persönliche, fast zärtliche Beziehung zu einer höheren Macht. «Ich spreche die ganze Zeit mit Gott, ich scherze mit Gott», sagte sie in einem Interview mit dem «Far Out Magazine». Gott ist für sie eine Kraftquelle, eine Leitplanke.

Wachsen statt erstarren

Mit «Lotus», ihrem sechsten Album, knüpft Little Simz genau hier an und geht zugleich einen radikal neuen Schritt. Erstmals produzierte sie wieder ohne Inflo. Die Freundschaft zerbrach, ein Gerichtsverfahren läuft, angeblich wegen rund 1,7 Millionen britischer Pfund, die er ihr schuldet. Im wütenden Auftakttrack «Thief» verarbeitet sie den Bruch und lässt der Wut freien Lauf. Aber sie nutzt sie, um sich neu zu finden. 

Wandel und Selbstermächtigung sind die grossen Themen dieses Albums. Little Simz besingt das Bemühen, im Chaos der Welt nicht zu verhärten, sondern aufzublühen. Die Lotusblume ist dafür das Symbol: Sie wächst aus dem Schlamm und erblüht doch makellos. Little Simz erhebt sich nicht als Siegerin, sondern als gewachsene Künstlerin. Dies mit einer Haltung, die über sie selbst hinausweist, etwa in Songs wie «Free» oder «Young Love». Liebe ist für sie eine Lebenspraxis. Eine Form heilender Transformation.

Musikalisch ist «Lotus» ebenso vielschichtig: Funk, Soul, Punk, Jazz und Bossa nova fliessen ein. Die Songs sind wütend, meditativ, poetisch. In «Peace» etwa spricht sie von Verlust und Resilienz, der Suche nach einem Platz in der Welt und von Gnade, innerem Frieden. «All I need is clarity», heisst es gegen Ende. Es klingt wie ein Gebet.

«Lotus» glänzt nicht nur musikalisch. Das Album ist ein Manifest künstlerischer Unabhängigkeit und ein Bekenntnis zu spiritueller Kraft, das zeigt: Selbst wenn vieles zerbricht, kann daraus etwas Ganzes entstehen.

Little Simz: Lotus. AWAL, 2025