In allen Menschen stecke etwas Gutes, sagte Margot Friedländer. «Man muss nur das Gute aus ihnen herausholen, nicht das Schlechte.»
Es waren schlichte, kluge Sätze, mit denen Friedländer beeindruckte. Und mit ihrer Präsenz, ihrem wachen Blick und ihrem Interesse am Gegenüber, wenn sie sprach.
Unermüdlich erzählte Friedländer ihre Geschichte: wie sie verfolgt wurde, nur weil sie Jüdin war. In Radiointerviews und Hörbüchern, vor Schulklassen und Parlamenten.
Ein Adressheft mit Verstecken
Stets blieb eine Unmittelbarkeit spürbar. So stockte ihre Stimme auch vor fünf Jahren im Gespräch mit «reformiert.» in Berlin, als sie sich daran erinnerte, wie sie im Januar 1943 für immer von ihrem vier Jahre jüngeren Bruder und ihrer Mutter getrennt wurde.
Die Gestapo hatte Ralph abgeholt, nachdem ein letzter Fluchtversuch der Familie verraten worden war. Die Mutter fand die Wohnung versiegelt vor. Sie stellte sich freiwillig, um den Sohn nicht allein zu lassen. Beide wurden in Auschwitz ermordet. Ihrer Tochter, die spät aus der Fabrik, wo sie Zwangsarbeit verrichten musste, nach Hause kam, hinterliess die Mutter eine Bernsteinkette, ein Adressheft mit Verstecken und einen Satz: «Versuche, dein Leben zu machen.»
Unbeschreibliches Leben
Friedländer tauchte unter, lebte unter falscher Identität in Verstecken, bis sie im April 1944 gefasst wurde und ins Konzentrationslager Theresienstadt kam. Nach der Befreiung emigrierte sie mit ihrem Mann nach New York. Er wollte nie mehr ins Land reisen, das auch seine Familie ausgelöscht hatte. So betrat Margot Friedländer erst sechs Jahre nach seinem Tod erstmals wieder deutschen Boden. Das war 2003. In Berlin, wo sie einst zu Hause war, fand sie jetzt eine neue Heimat.
Und eine späte Lebensaufgabe. Indem sie aus ihrem Leben erzählte, wollte Friedländer «die Wiederkehr des Unvorstellbaren» verhindern. Dabei nahm sie die nächsten Generationen in die Pflicht: «Werden Sie die Zeitzeugen, die wir nicht mehr lange sein können!» Gehör fand sie wegen ihrer unerschütterlichen Menschenliebe, die sie lebte und an die sie appellierte. Noch am 7. Mai sagte sie im Berliner Rathaus, wo des Kriegsendes vor 80 Jahren gedacht wurde: «Bitte seid Menschen!»
Späte Ehrungen
Margot Friedländer bekam zahlreiche Auszeichnungen. «Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal ein so unbeschreibliches Leben führe», sagte sie 2020 voller Dankbarkeit.
Den Termin für die Verleihung des Grossen Verdienstkreuzes durch den deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier konnte sie zuletzt nicht mehr wahrnehmen.
Am 9. Mai starb Margot Friedländer im Alter von 103 Jahren. Mit ihr verstummt eine eindringliche Stimme, welche die Welt nötiger hat denn je. Ihr Vermächtnis ist ein Auftrag: «Nur wer weiss, was geschehen ist, kann verhindern, dass es wieder passiert.»